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Der nationale Freizeitsport, Demos vor Pariser Denkmälern - auf dem Foto ist eine aus dem Jahr 2011 zu sehen -, sind ein sinnloser Protest, sagt Felix Marquardt.

Foto: ap/Thibault Camus

Jedes Mal, wenn der Versuch gemacht wird, Frankreich zu modernisieren oder tiefgreifend zu reformieren, streiken und protestieren Gewerkschaften und andere Interessengruppen und legen das Land lahm. Das hat auch etwas zutiefst Kindisches. Durch das jahrzehntelange Fehlen deutlicher Worte, mangelnde Zivilcourage oder wirkliche Führungsqualitäten haben sich die Franzosen an dieses haarsträubende Verhalten gewöhnt. Aber wer trägt die Verantwortung für diese entmutigende Realität?

Macht euch aus dem Staub!

Kurz nach Veröffentlichung der wahrhaft historischen Umfrage, wonach Marine Le Pen in einer Präsidentschaftswahl im zweiten Wahlgang vor François Hollande läge, attackierte Le Pen vehement die Bewegung "Macht euch aus dem Staub!" ("Barrez-vous!") und mich persönlich als "antifranzösisch". In dem gleichnamigen Manifest hatten zwei Mitunterzeichner und ich junge Franzosen aufgefordert, diesen nationalen Freizeitsport doch aufzugeben, der darin besteht, sich vor der Kulisse Pariser Denkmäler zu verlustieren und zu demonstrieren. Der Hintergrund ist die Unzufriedenheit vieler Franzosen darüber, dass in ihrem Land seit mehr als 30 Jahren die Jugendarbeitslosigkeit bei 25 Prozent liegt, und die Meinung, man müsse schon zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen, um die Politik zu erschüttern.

500.000 Franzosen in London

Wie in den meisten entwickelten Ländern, die derzeit in Bedrängnis sind, ist die menschliche Ressource, auch Humankapital genannt, in Frankreich eine der letzten Kräfte, um dieses so selbstbewusste wie selbstgefällige Land vor dem anhaltenden Niedergang zu bewahren. Eine genaue Schätzung des Anteils am britischen Bruttosozialprodukt, der von den 500.000 Franzosen erwirtschaftet wird, die in London - der viertgrößten französischen Stadt der Welt - leben, ist zwar schwierig. Aber es ist eine beträchtliche Summe und sie steigt Tag für Tag. Wenn junge Menschen abwandern, so dachten wir, müsste sich doch die politische Klasse endlich etwas überlegen, um der Jugend zu helfen.

"Unpatriotische Bettbeschmutzer"

Doch nichts ist geschehen. In den letzten zwei Jahren ist alles noch viel schlimmer geworden. Und so verlassen weiterhin ambitionierte und tatenlustige junge Franzosen das Land. Uns attackiert man weiter als unpatriotische Bettbeschmutzer, die die Jugend ermutigen, alles aufzugeben und wegzugehen. So als ob gute, patriotische und dankbare Franzosen im Lande blieben, während die ewig Negativen und Undankbaren das Land hinter sich ließen. So als ob die halbe Million Franzosen, die in der Boomtown London leben, allesamt Feiglinge wären und nicht wertvolle Botschafter ihres Landes!

Gegen die politische Klasse

Nein, ganz im Gegensatz zu dem, was Marine Le Pen behauptet, ist unsere Bewegung nicht antifranzösisch. Unser Ärger und unsere Ungeduld richten sich einzig und allein gegen die politische Klasse in Frankreich, zu der nun auch die "Front National" gehört. Natürlich gehören die rassistischen und revisionistischen Äußerungen, mit denen Marines Vater, Jean-Marie Le Pen, bekannt wurde, längst der Vergangenheit an. Ihre Reden sind sehr viel glatter und unverbindlicher formuliert, sodass man denken könnte, Konservative in Amerika und Europa stünden rechts von ihr. Nicht Extremismus und Engstirnigkeit sind das größte Problem des "Front National", sondern der Mangel an Kompetenz in wirtschaftspolitischen Fragen. Dies ist ganz allgemein ein Problem in der französischen Politik, bei der Front National ist es aber besonders eklatant.

Politik als Schönheitswettbewerb der Ideen

Die Franzosen betrachten sich gerne als Cartesianer, worunter sie rationale und pragmatische Haltung verstehen. Doch sie sind eigentlich echte Kantianer, das heißt, es geht immer um hehre Prinzipien und darum, wie die Dinge sein sollten, und nicht darum, was funktioniert und wie Konzepte praktisch umzusetzen sind. Politik wird so zu einem Schönheitswettbewerb der Ideen: Figuren wie Marine Le Pen brauchen nicht zu argumentieren, wie sie erreichen wollen, was sie freimütig versprechen (den Euro aufgeben, die Immigration stoppen, Vorrang für Franzosen). Es genügt, darüber zu schwadronieren, wie wundervoll und außerordentlich diese Ziele seien.

Keine pragmatische Politik

Die Franzosen, tragischerweise auch viele junge Menschen, sind zunehmend geneigt, dieser Frau ihre Stimme zu geben. Weil sie immer noch glauben, dass die Wahl solcher Kandidaten einen Bruch mit der bisherigen politischen Kultur bedeutet. Wenn es um Souveränität, Brüssel und die EU, Deutschland, Marktwirtschaft, Laxheit in der Haushalts- oder Sozialpolitik geht, ähnelt die Rhetorik des kürzlich zurückgetretenen sozialistischen Wirtschaftsministers Arnaud Montebourg (mit dem in diesem Punkt mehr als die Hälfte der Linken Frankreichs übereinstimmt) der Marine Le Pens ebenso wir der Henri Guainos, des ehemaligen und jetzigen Beraters und Redenschreibers des früheren Präsidenten Nikolas Sarkozy.

Politik als Konfrontation

Frankreich wurde in den letzten 35 Jahren von schwachen, unverantwortlichen oder inkompetenten Politikern regiert. Ausnahmen wie Michel Rocard und Alain Juppé konnten sich politisch nicht durchsetzen. Lange Zeit bestand die französische Politik aus einer Konfrontation zwischen zwei Arten von Europa-Skeptikern: einerseits den prinzipiellen, wie Marine Le Pen und Arnaud Montebourg. Und dann jenen, die vorgeben, voll hinter den europäischen Idealen zu stehen, sich aber in Wirklichkeit mit dem Macht- und Prestigeverlust nicht abfinden wollen, den eine stärkere Union zur Folge hätte.

Die Wirtschaft ist der Feind

Jahrzehnte der Feigheit und des Populismus des gesamten politischen Spektrums haben den Weg für die aktuelle Krise der Demokratie und den Aufstieg von Marine Le Pen geebnet. Im Jahr 2012 posaunte François Hollande als sozialistischer Präsidentschaftskandidat, die Finanzwelt "ist der Feind". Dies ähnelte der Äußerung des konservativen Präsidenten Jacques Chirac einige Jahre früher, der das wirtschaftliche Laissez-faire "eine Perversion des menschlichen Denkens" nannte, das "ebenso schlimm wie der Kommunismus" sei.

Rettung Frankreichs liegt in Reformen

Der nächste Präsident Frankreichs müsste den Wandel verkörpern. Premierminister Manuel Valls macht mutige Versuche. Doch Präsident Hollande zögert weiter, endlich doch noch Reformen durchzusetzen. In der gegenwärtigen Konstellation ist Valls zum Scheitern verurteilt und die Linke kaum mehr zu retten. Die Zuversicht des Kandidaten Sarkozy, er werde die Präsidentschaftswahl 2017 gewinnen, entstammt blanker Hybris. Denn mit der Wiederbeschäftigung von Europa-Skeptikern und Wirtschaftsprotektionisten ist er Teil des Problems und nicht dessen Lösung. Die Rettung vor einer zukünftigen französischen Präsidentin Le Pen wären tief greifende Reformen. Doch in einem vom Klassenkampf geprägten politischen Klima sind sie unrealistisch. Für Marine Le Pen regnet es Brot vom Himmel. (Felix Marquardt, derStandard.at, 5.11.2014)