Wien - De facto war Kevin W. also ein Achtjähriger, als er im Mai 2013 in Untersuchungshaft von einem Mithäftling misshandelt und vergewaltigt worden ist. Zu diesem Schluss kommt zumindest die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter in dem Raubprozess gegen den heute 15-Jährigen.

Auf diesem Entwicklungsstand sei der Teenager gewesen, als er am 29. April 2013 gemeinsam mit Freunden versucht habe, einem 72-Jährigen Geld zu rauben, indem er mit einem Messer drohte, wie Staatsanwältin Tatiana Spitzer-Edl angeklagt hat.

Diese wirft ihm aber auch noch andere Delikte vor, begangen alle nach seiner Entlassung aus der U-Haft im Juni 2013: versuchter Diebstahl zweier Videospiele, mehrere Körperverletzungen und das Anzünden eines Autos.

"Schwere Straftäter"

Alles Vorfälle, von denen die damalige Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) noch nichts wissen konnte, als sie im Juni 2013 die Verhängung der U-Haft über den Jugendlichen öffentlich verteidigte: Das passiere nämlich nur "bei schweren Straftätern", behauptete sie damals.

Dementsprechend groß ist das öffentliche Interesse an dem Schöffenprozess unter Vorsitz von Daniela Zwangsleitner. Will man doch sehen, wie ein quasi ministeriell beglaubigter junger Schwerverbrecher aussieht.

Gelegenheit dazu hat man erst am Ende. Denn zu Beginn der Verhandlung erscheint der großgewachsene 15-Jährige mit einer tief ins Gesicht gezogenen neongelben Mütze und hochgezogener Jacke.

Auf Antrag seiner Verteidigerin Sonja Scheed wird die Öffentlichkeit noch vor dem Anklagevortrag ausgeschlossen - die Entwicklung des Jugendlichen sei gefährdet, begründet Zwangsleitner die Entscheidung.

Mangelnde Reife

Was gesprochen worden ist, lässt sich aber aus Zwangsleitners Urteilsbegründung rekonstruieren. Vom Raubvorwurf wird W. nämlich, nicht rechtskräftig, wegen mangelnder Reife freigesprochen - da er laut Wörgötter ja einem Achtjährigen gleiche.

Die Vergewaltigung in der Haft habe damit nichts zu tun, meint die Expertin, der Teenager leide an einer Entwicklungshemmung.

Was allerdings widersprüchlich ist, muss der Bursch doch innerhalb weniger Monate einen erstaunlichen Entwicklungsschub gehabt haben. Denn für alle zwischen Oktober 2013 und Sommer 2014 angeklagten Vergehen wird der unbescholtene Geständige schuldig gesprochen.

Bei einem Strafrahmen bis zu sechs Monaten erhält er zwei Monate bedingt - da die Anklägerin keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig.

Keine Vorstellung für die Zukunft

"Ich hoffe, dass Sie Ihr Leben irgendwie in den Griff bekommen", sagt Zwangsleitner dem Teenager mit dem Bubengesicht noch. "Es hat mich ein bisschen frustriert, dass Sie gar keine Vorstellung haben, was Sie machen wollen." Ein kleiner Lichtblick für die Vorsitzende: Seit W. medikamentös gut eingestellt ist, hat es keine Vorfälle mehr gegeben. (Michael Möseneder, derStandard.at, 3.11.2014)