Wie man mit beeinträchtigten Mitschülern umgeht – und was die Mitschüler lassen sollten. Integration heißt auch Bewusstsein schaffen, das muss die Gesellschaft lernen, die Kinder beginnen damit.

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Wien/Innsbruck – Der Ruf aus Wien war offenbar vor der Tiroler Landesgrenze verhallt. Im August gab das Bildungsministerium bekannt, dass Sonderschulen für Kinder mit Behinderungen in Österreich ab 2020 nur noch die Ausnahme sein sollen. Vorreiter ist die Steiermark, die ab kommendem Jahr zur inklusiven Modellregion wird.

In Innsbruck wurde vergangene Woche ein neuer Sonderschulstandort eröffnet. "Integration ja, aber es braucht sonderpädagogische Betreuung", sagte Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) in der letzten Landtagssitzung. Er kenne persönlich Fälle, wo Inklusion nicht möglich sei.

Übersetzungsfehler

Ein noch nicht veröffentlichtes Gutachten der Universität Innsbruck klärt nun die völkerrechtliche Situation: "Das österreichische Sonderschulmodell verstößt eindeutig gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und damit gegen Völkerrecht", sagt Karl Weber, Leiter des Instituts für Öffentliches Recht, der an der Erstellung des vom Sozialministerium in Auftrag gegebenen Papiers beteiligt ist. Minister Rudolf Hundstorfer war kurzfristig nicht für eine Stellungnahme erreichbar.

Bisherige Unklarheiten seien auf einen Übersetzungsfehler zurückzuführen, weil das englische Wort "inclusion" in der deutschen Version zu "Integration" wurde. Das Bundeskanzleramt arbeite derzeit bereits an einer Neufassung, sagt Weber. "Die Länder sind jedenfalls verpflichtet, sich an Staatsverträge zu halten. Wenn Tirol durch den Bau einer Sonderschule die UN-Konvention verletzt, müsste die Bildungsministerin deutlich dagegen auftreten."

Schrittweise Abschaffung

Schlusslicht in Bezug auf inklusiven Unterricht sind Tirol und Niederösterreich. In den beiden Bundesländern wird weniger als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, denen wegen körperlicher oder psychischer Einschränkung ein sogenannter sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) attestiert wird, integrativ beschult. In der Steiermark sind es derzeit rund 85 Prozent.

"Seit der Ratifizierung der UN-Konvention im Jahr 2008 hat sich in Österreich kaum etwas getan", sagt der ehemalige Sozialminister und heutige Behindertenanwalt Erwin Buchinger (SPÖ). Er fordert eine schrittweise Abschaffung der Sonderschulen. "Wenn man keine Neuaufnahmen ab 2016 beschließt, wäre das innerhalb der nächsten zehn Jahre möglich."

Auch Kinder im Wachkoma

Buchinger kenne "viele positive Fälle" – sogar Kinder mit Schädel-Hirn-Trauma und Wachkomapatienten könnten seiner Ansicht nach in Regelklassen unterkommen. "Der Lärm, das Lachen, das sind wichtige Anreize für diese Kinder." Er fordert eine kurzfristige Erhöhung der Fördermittel für behinderte Kinder, einen Rechtsanspruch auf Inklusion in Regelschulen auch für die Oberstufe – derzeit besteht er nur für die Pflichtschuljahre – und eine Abschaffung des SPF.

Tirols Grüne würden sich für eine "gemeinsame Schule für alle" einsetzen und "langfristig für ein Auslaufen des traditionellen Sonderschulsystems" – mit dem schwarzen Regierungspartner sei man uneins. "In der Praxis gibt es für die Integration von Schülern mit Behinderungen viele Widerstände wie fehlende Barrierefreiheit und mangelnde Bereitschaft von Lehrern zur Integration", sagt Landesrätin Christine Baur.

Weber empfiehlt den Blick in Nachbarländer. In Italien wurden Sonderschulen bereits 1977 abgeschafft. "Wo es das Angebot gibt, funktioniert es, es ist bloß teurer." (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 4.11.2014)