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Verzweifelt versuchten Passanten, die 38-Jährige vor dem Tod zu retten.

Foto: Reuters/Stringer

Rossen Plewneliew hatte gerade die Rechtsnationalisten zu Beratungen über eine Regierungsbildung empfangen, als eine Frau vor dem Präsidentenpalast in Sofia parkte, aus dem Auto stieg und sich anzündete. Wachleute eilten zu der 38-Jährigen, die sich am Boden krümmte. Passanten versuchten, mit ihren Jacken die Flammen zu ersticken. Die Selbstverbrennung am Montagnachmittag – die achte seit Beginn der Armuts- und Demokratieproteste in Bulgarien im Winter 2013 – war eine neue fürchterliche Erinnerung für das Land, dass sich im Grunde nichts geändert hat: Vier Regierungen und eine Parlamentswahl später scheint die Kluft zwischen Politikern und der verarmten Mehrheit nur größer.

Makabre Songwahl: "Burn It to the Ground"

Kurz bevor sich Lydia Petrowa, eine ehemalige Fotoreporterin und Mutter eines elfjährigen Sohns, mit Benzin übergoss, tauschten Parteiunterhändler auf ihren persönlichen Facebook-Seiten musikalische Referenzen aus, um den Stand der Koalitionsgespräche zu kommentieren. Radan Kanew, einer der Führer des kleinen Rechtsbündnisses Reformblock (RB), postete einen Link zu dem Stück "Stiff Upper Lip" der Hardrockgruppe AC/DC; Rumjana Batschwarowa, eine Vertraute des designierten Premiers Boiko Borissow von der Mitte-rechts-Partei Gerb (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), versuchte Härte in den Verhandlungen mit einem Video der Rockband Nickelback zu demonstrieren – der Songtitel hieß "Burn It to the Ground". Eine besonders gedankenlose Wahl nach der Serie von Selbstverbrennungen im Land.

Kleinparteien wollen keine Neuwahl

Gerb und RB stritten am Dienstag in weiteren Gesprächen über die Verteilung der Ministerposten in einer gemeinsamen Minderheitsregierung. Diese wäre fallweise auf Stimmen der Rechtsnationalisten von der Patriotischen Front, der kleinen Dissidentenpartei ABV des früheren sozialistischen Präsidenten Georgi Parwanow (2001–2011) oder der einflussreichen Wirtschaftspartei DPS der türkischstämmigen Minderheit angewiesen. Da keine der kleinen Parteien im nun acht Fraktionen zählenden bulgarischen Parlament an Neuwahlen und dem Verlust der Mandate interessiert ist, werden einer solchen Regierung gewisse Überlebenschancen eingeräumt.

Die Erwartungen an ein zweites von Boiko Borissow geführtes Kabinett sind gleichwohl gering. Borissow war im Februar 2013 auf dem Höhepunkt der Straßenproteste gegen die Strompreise und Monopole in der Wirtschaft zurückgetreten und hatte das Management der Krise einem Technokratenkabinett überlassen. Bulgariens staatlicher Energiesektor ist weiter stark defizitär; die Schulden der nationalen Stromgesellschaft NEK haben mit umgerechnet 212 Millionen Euro einen neuen Rekord erreicht. Eine Reform des Energiesektors an Haupt und Gliedern gilt als dringend, wäre aber auch mit weiteren Preiserhöhungen im ärmsten Land der EU verbunden.

Lücke von zwei Milliarden

Rasch lösen muss die nächste Regierung auch den Fall der faktisch insolventen Bank KTB. Eine Wirtschaftsprüfung soll eine Finanzlücke von umgerechnet mehr als zwei Milliarden Euro ergeben haben. Borissow hatte vergangene Woche in einem Parlamentsausschuss zuerst einen Beschluss für eine Rettung der Bank mit staatlicher Hilfe erwirkt; während der Debatte im Plenum änderte er dann seine Ansicht. Den Ausschlag soll die Position der möglichen Investorengruppe bei der KTB gegeben haben, unter ihnen der Wiener Fonds Epic. Die Investoren schlugen ein Joint Venture mit dem bulgarischen Staat zu jeweils 50 Prozent vor sowie eine Staatshilfe von umgerechnet 1,1 Milliarden Euro und ein Bail-in, eine Selbstbeteiligung von Kontenbesitzern, deren Einlagen die – zumindest im Prinzip – vom bulgarischen Staat garantierten 100.000 Euro übersteigen. Borissows Gerb lehnte dies nun ab, sehr zum Ärger der Türkenpartei DPS.

Politische Beobachter zweifeln aber, dass Borissow bei seinem Nein zur Rettung der KTB bleibt. Bulgariens Politiker würden keinesfalls den Untergang der KTB hinnehmen, erklärte ein hoher Behördenvertreter dem STANDARD. Dies wäre andernfalls ein Signal, dass auch andere bulgarische Geldinstitute, wo Oligarchen und Politiker Konten unterhalten, nicht mehr sicher seien. Geldgier sei das treibende Moment des Führungspersonals in Bulgarien.

25 Jahre nach dem Ende des Sozialismus und der Wende zur Demokratie ist die Depression auf Sofias Straßen mit den Händen zu greifen. Bei einem offiziellen Mindestlohn von umgerechnet 170 Euro und Pensionen von etwa 100 Euro ist es für einen großen Teil der Bevölkerung unmöglich geworden, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Seine Frau sei besorgt über die Zukunft ihres gemeinsamen Kindes gewesen, sagte der Ehemann von Lydia Petrowa, befragt über die Verzweiflungstat seiner Frau vor dem Präsidentenpalast in Sofia. Sie lag am Dienstagmorgen mit Verbrennungen von 90 Prozent im Spital und wurde künstlich beatmet.

Im südwestlichen Sandanski setzte sich am Dienstag ein weiterer Mensch im Hof einer Kirche in Brand, wie die Polizei mitteilte. Der 48-Jährige lebte von Gaben der Kirche. Er wurde schwer verletzt in ein Krankenhaus in Sofia gebracht. (Markus Bernath, derStandard.at, 4.11.2014)