Illustration: Fatih Aydogdu

Salzburg/Wien - Ist in Österreich von Migranten die Rede, dann meist in Verbindung mit Problemen. Dass das ein ziemlich verkürzter Blick ist, zeigt das EU-Projekt "Making Migration Work for Development": Zweieinhalb Jahre haben Forscher aus zehn Ländern untersucht, wie sich der durch Migration verursachte demografische Wandel in Südosteuropa auf die dortige Wirtschaft und Gesellschaft auswirkt. Als einer der Zielorte am anderen Ende der Migrationsrouten wurde die Stadt Wien in die Analysen einbezogen.

Fazit: "Die wirklich großen Probleme im Gefolge der Migration lasten auf den von Abwanderung betroffenen Regionen in Südosteuropa", sagt Markus Pausch vom Zentrum für Zukunftsstudien der FH Salzburg. "Sie leiden unter einem folgenschweren Braindrain, da besonders junge, gut ausgebildete Menschen ihre Heimat in Richtung Westen verlassen." Die Einwanderungsregionen könnten dagegen von dieser Migrationsbewegung profitieren.

Welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen für Wien damit verbunden sind, haben Pausch und sein Team anhand von drei Szenarien für das Jahr 2020 ermittelt. Szenario 1 geht von einem völligen Zuwanderungsstopp aus: Die Folgen wären ein verschärfter Arbeitskräftemangel insbesondere im Pflege- und Baubereich sowie eine massive Belastung des Sozialsystems, da es zu wenige Erwerbstätige zur Finanzierung von immer mehr Pensionisten gäbe.

Im gegenteiligen Extremfall nehmen die Forscher eine forcierte Einwanderung von 200.000 Menschen in den nächsten Jahren an. Ein Szenario, das Wien nicht nur in Hinblick auf die Infrastruktur vor große Probleme stellen würde. Wäre dann wenigstens der Arbeitskräftemangel behoben? "Wenn man Migranten wie bisher unter ihrem Ausbildungsniveau einsetzt, könnte man dieses Problem trotz eines Überangebots an Arbeitskräften nicht lösen", sagt Pausch.

Am wahrscheinlichsten ist Szenario 3, das von einer gemäßigten Zuwanderung von 100.000 Menschen ausgeht: "Die Neowiener würden wie im Maximalszenario vor allem aus Deutschland, Polen und den südosteuropäischen EU-Ländern kommen", sagt Wilko Schröter, der das demografische Know-how für die Prognosen beisteuert. "Die Zuwanderung aus der Türkei dagegen stagniert, es ist sogar eine gewisse Remigration zu verzeichnen."

Die Forscher rechnen damit, dass in sechs Jahren etwa 50.000 Deutsche, 32.000 Rumänen und 53.000 Polen in Wien leben. Der Anteil von Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Wien würde sich demnach bis 2020 von gegenwärtig 22 Prozent (388.000 Personen) auf 31 Prozent (571.000 Personen) erhöhen. Obwohl diese Personengruppe im Schnitt fast zehn Jahre jünger als die der Österreicher ist, kann die demografische Alterung dadurch nicht gestoppt, sondern nur abgebremst werden.

Auf dieses zu erwartende Zukunftsszenario sei die Stadt Wien schon relativ gut vorbereitet, sagt die Soziologin Elisabeth Zechenter. Ein großes Defizit sei jedoch die mangelnde Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. "Viele gut ausgebildete Zuwanderer arbeiten weit unter ihrem Ausbildungsniveau", sagt die Wissenschafterin - laut Schätzungen 40 bis 50 Prozent.

Das habe nicht nur für die Migranten selbst, sondern auch für die Stadt negative Folgen: "Dass sich dieses Wissens- und Erfahrungspotenzial nicht entfalten kann, ist wirtschaftlich betrachtet ein Versäumnis und birgt überdies sozialen Sprengstoff, da die systematische Marginalisierung der Zuwanderer dem gesellschaftlichen Zusammenhalt entgegenwirkt."

Wie wenig man sich hierzulande bemüht, die mitgebrachten Kompetenzen der Migranten wirtschaftlich und kulturell zu nutzen, zeige sich beispielsweise im Umgang mit ihren Sprachkenntnissen. "Sprachen aus dem südosteuropäischen Raum werden generell niedriger bewertet als etwa Englisch", sagt der Kulturwissenschafter Heiko Berner. Durch dieses unterschwellige Ranking liege ein großes Wissenspotenzial brach - "und das nicht nur in Hinblick auf die Erschließung von Märkten".

Wie stark über Jahrhunderte gewachsene Hierarchisierungen nachwirken, zeigt der Vergleich mit der Zuwanderung aus Deutschland, die den stärksten Aufwärtstrend aufweist. Während im Jahr 2002 13.700 Deutsche in Wien lebten, sind es heuer bereits 38.000 - derzeit die drittgrößte Zuwanderungsgruppe nach Serben und Türken. "Bei dieser Gruppe werden die mitgebrachten Kompetenzen problemlos anerkannt, Dequalifizierung ist hier kein Thema", betont Markus Pausch.

Soziale Segregation

Wie in den meisten Einwanderungsstädten wird auch in Wien die ethnische Segregation, also die Bildung von "Ausländerbezirken", als Problem gesehen. "Die räumliche Gliederung nach ethnischer Zugehörigkeit ist aber nicht grundsätzlich etwas Schlechtes", ist Pausch überzeugt. "Wichtig dabei ist allerdings, dass sie sich nicht mit einer sozialen Segregation verbindet. Denn die auftretenden Probleme sind meist keine ethnischen, sondern soziale." Der Spielraum, hier gestaltend einzugreifen, ist für die Stadtverwaltung allerdings begrenzt. Soziale Segregation hat nicht nur mit der (Un-)Durchlässigkeit des Bildungssystems zu tun, sondern auch mit der politischen Teilhabe von Migranten, etwa durch ein Wahlrecht auch für EU-Drittstaatenangehörige - die Weichenstellungen in diesen Bereichen finden auf höherer politischer Ebene statt.

Dass sich der demografische Wandel durch Migrationsbewegungen auch auf die europäischen Demokratien auswirken wird, steht für die Forscher deshalb außer Zweifel: "Mehr als 30 Millionen Menschen, die in der EU leben, haben hier kein Wahlrecht. Das ist ein echtes Demokratieproblem", sagt Pausch.

Als fruchtbar hat sich jedenfalls der Erfahrungsaustausch mit Politikern, Bildungs- und Wirtschaftsvertretern aus den Herkunftsregionen erwiesen: So sei man dort sehr daran interessiert, die Ausbildung an die realen Bedürfnisse der europäischen Länder anzupassen. Der Forscher ist überzeugt: "Damit wäre nicht nur den Einwanderungsländern, sondern durchaus auch den südosteuropäischen Herkunftsregionen der Migranten gedient." (Doris Griesser, DER STANDARD, 5.11.2014)