Vielen Frauen sei gar nicht bewusst, wie drastisch sich Karenzzeiten und Teilzeitarbeit auf spätere Pensionsansprüche auswirken, sagt die Soziologin Sardadvar.

Foto: STANDARD/Heribert Corn

STANDARD: In Österreich besucht nur jedes zehnte Kind unter drei Jahren eine Betreuungseinrichtung. Damit liegen wir weit unter EU-Schnitt. Warum ist das so?

Sardadvar: Die Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdbetreuung von Kleinkindern ist gering. Ein Grund ist, dass der Kindergarten noch immer nicht als elementare Bildungseinrichtung anerkannt wird. Das spiegelt sich in den Beschäftigungsbedingungen der Kindergartenpädagoginnen wider. Sie werden in Österreich nicht an Unis oder Fachhochschulen ausgebildet. Das ist einzigartig in Europa. Die Bezahlung ist niedrig und wird den Herausforderungen und der Bedeutung dieser Arbeit nicht gerecht.

STANDARD: Man müsste also Ausbildung und Gehalt der Kindergärtner aufwerten, um Skepsis gegenüber der Einrichtung abzubauen und mehr Kinder in Betreuung zu bekommen?

Sardadvar: Ja, in Finnland und Frankreich etwa haben Kindergärten und -krippen einen ganz anderen gesellschaftlichen Stellenwert. Dort gilt der Kindergarten als wichtige Bildungseinrichtung, entsprechend hoch sind die Fremdbetreuungsquoten.

STANDARD: Zum geringen Gehalt der Kindergartenpädagogen kommen die psychischen Belastungen bei zu großen Gruppen ...

Sardadvar: Bei einem Interview über Arbeitsbedingungen hat mir eine Kindergärtnerin gesagt, dass sie den Beruf aufgeben will, sobald sie Mutter wird. Es sei zu anstrengend, den ganzen Tag mit Kindern zu verbringen. Das ist beispielhaft: Viele Elementarpädagoginnen steigen mit der Mutterschaft aus dem Beruf aus und kommen nicht mehr zurück. Dabei spricht die Arbeit mit Kindern viele Menschen an: Sie bietet hohen Sinnbezug und die Möglichkeit einer längerfristigen Beschäftigung. Trotzdem ist der Beruf wegen der Bedingungen unattraktiv. Um ihn aufzuwerten, bräuchte es höhere Ausbildung und eine bessere Entlohnung.

STANDARD: Wie beeinflusst das herrschende Mutterideal, dass so wenige Kinder fremdbetreut werden?

Sardadvar: Die Frage ist, welche Rahmenbedingungen die Politik geschaffen hat. In Österreich war es jahrzehntelang schwierig, Betreuungsplätze für Kinder zu finden. Stattdessen wurden lange Karenzmodelle eingeführt. Dadurch wurde es normal, dass Mütter bei den Kindern bleiben. Die Einstellung der Menschen spiegelt also eine soziale Wirklichkeit wider. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Österreich lehnt es ab, dass Mütter von Kindern unter drei Jahren arbeiten gehen. In keinem anderen EU-Land ist die Ablehnung so groß.

STANDARD: Der positive Effekt von hochwertiger Elementarbildung ist gut erforscht - hat aber mit der Wirklichkeit in vielen Kindergärten wenig zu tun. Wo müsste man ansetzen?

Sardadvar: Idealerweise gleichen Kindergärten ungleiche Chancen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft aus und machen schlechte Startbedingungen wett. Das ist ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag. Die Bedingungen in den Kindergärten sind natürlich wichtig - womit wir bei der Qualitätsfrage sind. Die Eltern sind Befragungen zufolge mit der Qualität aber recht zufrieden. Das größere Problem sind mangelnde Plätze, Öffnungszeiten und Kosten.

STANDARD: Bei der Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat man mitunter den Eindruck, dass es nur Karrierefrauen und "Heimchen am Herd" gibt. Frauen, die weder das eine noch das andere sind, kommen kaum vor. Warum?

Sardadvar: Diese Zweiteilung entspricht nicht der Realität. Die meisten Mütter sind weder das eine noch das andere, sondern arbeiten in Teilzeit und kümmern sich gleichzeitig um ihre Kinder. Wir haben es außerdem mit einem ideologisch geprägten Mutterideal zu tun.

STANDARD: Die Ansprüche an Kindererziehung haben sich verändert - Stichwort Frühförderung. Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind in der Wettbewerbsgesellschaft übrig bleibt. Erhöht das den Druck auf die Mütter?

Sardadvar: Mit Sicherheit. Die Familiensoziologie zeigt, dass sich die Erwartungen an Elternschaft verändert haben. Kindererziehung ist zeitaufwändiger und anspruchsvoller geworden. Besonders von Müttern wird außerdem erwartet, für ihre Kinder möglichst immer verfügbar zu sein und eigene Interessen hintanzustellen.

STANDARD: Wie sieht es mit dem ökonomischen Druck aus, unter dem viele Familien leiden? Wie beeinflusst er die Rollenbilder und Vorstellungen von Mutterschaft?

Sardadvar: Frauen mit geringen Einkommen haben ganz praktische Probleme: In den Branchen, in denen viele von ihnen arbeiten, etwa im Handel oder in der Reinigung, sind Arbeitszeiten oft schlecht auf Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen abgestimmt. Das macht die Vereinbarkeit schwierig. Auch die allgemeine wirtschaftliche Situation hat Auswirkungen. Die französische Philosophin Elisabeth Badinter sieht in der Wirtschaftskrise einen Backlash für die Emanzipation: Weil es weniger Arbeitsplätze gibt, laute der Appell an Frauen, den Arbeitsmarkt den Männern zu überlassen und daheim bei den Kindern zu bleiben.

STANDARD: Dass Mütter wegen Kinderbetreuung die Arbeit unterbrechen oder in Teilzeit gehen, wirkt sich negativ auf ihren Pensionsanspruch aus. Wie drastisch sind diese Folgen?

Sardadvar: Der Gender Gap bei den Pensionen ist sehr hoch: In Österreich bekommen Frauen im Durchschnitt rund 40 Prozent weniger Pension als Männer, wenn man nur ihre Alterspensionen ohne Witwenpensionen betrachtet. Das erklärt auch, warum Altersarmut vor allem Frauen trifft. Vielen Frauen ist nicht bewusst, wie sich Karenz und Teilzeitarbeit auf ihre Pension auswirken. Wäre es ihnen bewusst, könnten viele aber kaum etwas ändern: Sie haben keine Jobalternative oder zu wenig Unterstützung bei der Kinderbetreuung.

STANDARD: Vollzeit für alle ist keine Lösung.

Sardadvar: Nein, das ist nicht das Ideal. Eine generelle Arbeitszeitverkürzung würde eher zum Ziel führen als Überstunden und stressige Vollzeitjobs. Auch viele Männer wollen das nicht mehr. Es entstehen neue Ideale, in der Schweiz gab es eine große Kampagne für den "Teilzeitmann".

STANDARD: Familie und Beruf zu vereinbaren schafft kaum eine Frau ohne Hilfe von außen. Wer genug Geld hat, beschäftigt Haushaltshilfe und Babysitter. Verschiebt sich hier häusliche Arbeit von Frau zu Frau?

Sardadvar: Diese Verschiebung findet statt. Denn die Haus- und Familienarbeit ist noch immer sehr ungleich zwischen Männern und Frauen verteilt. Damit Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen können, arbeiten oft andere Frauen für sie. Leider sind viele der Jobs, die dadurch in privaten Haushalten entstehen, prekär und schlecht bezahlt. Auch innerhalb der Familie wird die Arbeit zwischen Frauen umverteilt: Dass Großmütter die Enkel betreuen, ist Alltag in Österreich. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 5.11.2014)