Versetzt sich im neuen Roman in eine junge Anarchistin in Griechenland: Marlene Streeruwitz.

Foto: Matthias Cremer

Wien - Die deutsche Gegenwartsliteratur kommt einem manchmal vor wie ein einziges Vergangenheitsbewältigungsseminar. Gegraben wird in dem, was vor Generationen schiefgelaufen ist. Die Verbrechen der Großväter im "Dritten Reich" oder im Kommunismus als ewig schwärende Wunde, die fortwährend verarztet werden muss.

Nelia Fehn, 1993 geborene österreichische Autorin, zeigt in ihrem Debüt Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland, (S.-Fischer-Verlag) dass man niemals nur irgendwoher kommt - sondern immer auch irgendwohin geht. Sie kommt aus einem Land, das bereits in der Vergangenheit versehrt wurde: Österreich. Statt aber zurückzuschauen, fährt sie in ein Land, das gerade im Begriff ist, zugrunde gerichtet zu werden: Griechenland.

Hinter dem Namen Nelia Fehn steckt Marlene Streeruwitz, die im unlängst erschienenen Roman Nachkommen bereits erzählte, was Nelia als Debütantin auf der Frankfurter Buchmesse alles erlebt. Nun schreibt Streeruwitz als ihr eigenes Geschöpf - ein Kunstgriff, der bereits darauf hinweist, dass Zukunft und Vergangenheit immer zusammengehören. Dass die Jungen gar nicht anders können, als an einer Welt weiterzubauen, die die Alten bereits vorgedacht und ausgebeutet haben. Bei Nelia Fehn ist das ihre verstorbene Mutter, eine feministische Autorin. Statt des Vaters, den die Mutter aus ihrem Leben verbannte, gibt es einen Großvater, der ihr nach dem Tod der Mutter Stütze war. Nelia Fehns schwärende Wunde: "Der Opi war ein Kamerad vom Waldheim gewesen."

Es gibt aber auch frische Versehrungen. Nelia liebt Marios, einen griechischen politischen Aktivisten. Ihn will sie in Athen treffen, um dort an einer Demonstration teilzunehmen. Der Weg zum geliebten Mann gestaltet sich hürdenreich, und man kann es als feministische Aussage lesen, dass hier eine junge Frau darum kämpft, zu ihrem Mann zu kommen - und nicht umgekehrt. Oder dass es neben kaputten Fähren und der Unvertrautheit mit Land und Sprache Männer sind, die sich ihr in den Weg stellen: Solche etwa, die ihr ungefragt die Zunge in den Mund stecken. Nelia Fehn ist Tochter einer Feministin und Patriarchatskritikerin; das meint sowohl Dora Fehn als auch Marlene Streeruwitz. Sie weiß Übergriffe und ihre Folgen zu erkennen.

Wider das Mittelmaß

Vor allem weiß sie das Elend der griechischen Bevölkerung und fehlgeleitete politische Mechanismen zu benennen: Armut, Überwachung, Willkür. Was diesen Motor am Laufen hält, ist das scheinbar rationale Bekenntnis zu Gewinn und Effizienz. "Alles muss sich auszahlen und irgendeinen Benefit ergeben."

Nelias Sprache kommt über weite Strecken ohne jeden schriftlichen Formwillen aus, sie wirkt wie gesprochen. So nah am Körper bleibend, setzt sie ein Zeichen für den Menschen und sein Da-Sein - im Gegensatz zu den Systemen, die dem, was ist, aufzeigen wollen, wie es zu sein hat.

Wie die Autorin diese Mechanismen anprangert, hat manchmal etwas von einem naseweisen Teenager. Ob politischer Kampf oder Liebe, Nelia Fehn scheint genau zu wissen, was richtig ist. Was sie ablehnt, ist das gesellschaftlich propagierte Mittelmaß: "Sie wollen, dass man immer neu gehorsam den Möglichkeiten folgt und in einer ununterbrochenen Trauerarbeit sich selbst an diese Möglichkeiten adaptiert." Das mag einem naiv vorkommen - und doch hat Marlene Streeruwitz recht, sich dieser Teenagerstimme zu bedienen. Weil die Jungen eben manchmal noch so klug sind, das von den Alten Vorgekaute einfach wieder auszuspucken. Es ist kraftraubend und unbequem, nach hohen Ansprüchen zu leben. Aber es ist möglich. (Andrea Heinz, DER STANDARD, 5.11.2014)