Einigkeit durch die Liebe im Herzen: Demonstrationsplakat (1989) aus dem Deutschen Historischen Museum.

Foto: Deutsches Historisches Museum

Immer zur vollen Stunde sammelt sich ein Grüppchen Besucher im Saal 35 des Britischen Museums in London. Andächtig betrachten sie eine übermannsgroße Zimmeruhr aus Messing, deren Zeiger unaufhaltsam weitergleiten. Da durchbrechen vier helle Schläge die Stille. Über dem Zifferblatt erscheint ein Sensenmann und erinnert die Zuschauer an den Tod. Stundenschläge folgen, dann herrscht Ruhe. Plötzlich hebt das Glockenspiel an zum Luther-Choral Vater unser im Himmelreich. Verblüfft sehen sich die Besucher an: Was kann dieser 425 Jahre alte Apparat des Uhrmachers Isaak Habrecht (1544-1620) noch alles?

Das klingende Meisterstück ist eines von rund 200 Objekten der Kunstgeschichte, anhand derer das ehrwürdige Museum den Briten 600 Jahre deutscher Geschichte nahebringen will. In hingebungsvoller Kleinarbeit haben Direktor Neil MacGregor (68) und seine Kuratoren Kunsthandwerk, Gemälde und Design versammelt und unter das Motto Germany - memories of a nation gestellt. Der Plural "Erinnerungen" deutet auf die Uneinheitlichkeit der "Nation" hin. "Es gab in der Geschichte viele verschiedene Deutschlands. Oft war es mehr eine Idee als ein einzelner Staat", heißt es im Ausstellungstext. Der Hinweis ist wichtig in der Hauptstadt von England, dessen staatliche Einheit bis ins Mittelalter zurückreicht.

Das Wissen über Deutschland hatte sich für viele Briten in den vergangenen Jahrzehnten auf wenige Schlagworte reduziert. Den "Vorsprung durch Technik" kann ein Automobilkonzern auf Deutsch bewerben, und jeder weiß, was gemeint ist. "Made in Germany" gilt als verlässlich, gleichzeitig ein wenig langweilig. Die Schulen des Landes verlässt kein Halbwüchsiger, ohne nicht mindestens einmal intensiv die Gräuel des Nazi-Terrors studiert zu haben. Andere Epochen treten völlig in den Hintergrund. Dabei ist sich Museumsdirektor MacGregor sicher: "Wenn man Europa und die Welt verstehen will, muss man Deutschland verstehen."

Überschattetes Verhältnis

Jahrelang wagte sich das wackere Grüpplein der Germanophilen kaum aus der Deckung. Um die Jahrhundertwende überschatteten politische Zerwürfnisse das deutsch-britische Verhältnis. Derzeit überwiegen in Parlament und Medien die Deutschland-Versteher. Und die Bewunderer deutscher Kultur zählen auf, was dieser Herbst allein in der Hauptstadt zu bieten hat.

In der Royal Academy stehen die Besucher Schlange, um sich die Retrospektive des Malers Anselm Kiefer anzusehen. Die Marian Goodman Gallery zeigt Werke von Gerhard Richter. Tate Modern widmet dem verstorbenen Sigmar Polke eine umfassende Ausstellung. Musikliebhabern unvergessen ist jener Moment Anfang September, als Simon Rattle mit seinen Berliner Philharmonikern in der Royal Albert Hall mit Bachs Matthäus-Passion gastierte.

Nun also die Adelung im legendären British Museum. Habrechts klingende Uhr war hier auch bisher schon zu sehen, als Beispiel überragender Handwerkskunst der Renaissance. Den Ausstellungsmachern dient das edle Stück nun als Symbol fortbestehender deutscher Technikverliebtheit und Detailtreue - und gleichzeitig als Symbol für Verlorenes. "German no more" steht als Motto über diesem Teil der Schau, nicht mehr zu Deutschland gehörig. Gemeint ist Straßburg, wo Habrecht lebte und arbeitete - einst "integraler Bestand des Heiligen Römischen Reiches", gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Frankreich annektiert. Basel, Königsberg (Kaliningrad), Prag - ehemals deutsche Städte werden vorgestellt, um den Unterschied zwischen staatlicher und kultureller Zugehörigkeit zu erläutern. "Eine Geschichte von politischer und geografischer Komplexität wie nur wenige andere Länder" habe Deutschland hinter sich.

Optisches Memento

Natürlich darf Tischbeins Gemälde Goethe in der Campagna nicht fehlen, schließlich spricht MacGregor von der "Nation unter Goethe". Ein Exemplar der Gutenberg-Bibel, das Porzellan-Rhinozeros von 1730 aus Meißen - ein Fest für die Augen, Anregung zum Nachdenken über Aspekte deutscher (Geistes-)Geschichte.

Freilich fehlt bei aller Begeisterung nicht der Hinweis auf Nazi-Terror und Massenmord, "die zentrale, unausweichliche Erinnerung des modernen Deutschland", wie es die Ausstellungsmacher formulieren. Die Nachbildung der Pforte zum Konzentrationslager Buchenwald mit dem zynischen Slogan "Jedem das Seine" bildet das optische Memento. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 6.11.2014)