"Die sitzen überall", sagt der junge Mann und senkt seine Stimme. Der Mitarbeiter der Universität Wien sitzt in einem kleinen Wiener Beisl und erzählt, was er über den Österreichischen Cartellverband zu sagen hat. Er stellt schnell klar: Namentlich will er auf keinen Fall genannt werden. Der Uni-Angestellte sieht den CV als mächtigen Bund an den akademischen Ausbildungsstätten dieses Landes - einen Bund, mit dem man es sich lieber nicht verscherzen sollte. Als er erfährt, dass einer der AutorInnen dieses Artikels Rechtswissenschaften studiert, meint er, man solle sich doch überlegen, ob man seinen Namen unter einer solchen Geschichte wissen will. Das könne einem das akademische Leben schwermachen. Er zeichnet ein Bild, das den ÖCV als Verein von Strippenziehern an den Unis darstellt, die an den entscheidenden Positionen sitzen und von dort aus die Mitglieder bis in die höchsten Ebenen befördern.

Die Universität ist für den CV als Studentenverbindung ein Dreh- und Angelpunkt. Sie ist jener Ort, an dem man Mitglieder kennenlernt, an dem man einen große Teil seiner Zeit als aktives Mitglied verbringt und an dem man immer Verbindungsbrüder in unmittelbarer Nähe weiß.

Der Mythos vom omnipräsenten CV

Nicht nur an den Universitäten wird über die wahre Stärke des Cartellverbands spekuliert. Im Mai 2012 überraschte die Molekularbiologin Renée Schroeder mit einem drastischen Schritt. Sie legte ihre Mitgliedschaft in der renommierten Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zurück. In einem öffentlichen Brief führte sie als Grund an, dass es innerhalb der ÖAW "weder um die Förderung von Exzellenz noch um wissenschaftliche Erkenntnisse" gehe. In Medienberichten zu Schroeders Austritt wurde allerdings noch ein weiterer Grund angeführt: die angebliche Übermacht des Cartellverbands in der Gelehrtengesellschaft. 61 Prozent der ÖAW-Mitglieder seien demnach auch CV-Mitglieder, hieß es damals.

An diese Zahl kann sich Renée Schroeder heute nicht erinnern. Sie sei falsch zitiert worden, sagt sie im Gespräch. Fakt ist, dass der Präsident der Akademie, der Physiker Anton Zeilinger, ein prominentes Mitglied der Verbindungen Marco-Danubia Wien und Austria Innsbruck ist. Schroeder warf ihm in einem "Profil"-Interview vor, Werbung für den CV zu machen.

Der Cartellverband rühmt sich jedenfalls in einer Aussendung vom März 2013 damit, dass der größten außeruniversitären grundlagenorientierten Forschungsinstitution Österreichs wieder ein CVer vorstehe. Zeilinger wurde allerdings erst 2013 ins Amt gewählt, Schroeders Austritt kam seiner Bestellung also zuvor, zu dieser Zeit war kein CVer Präsident der ÖAW gewesen. Auch wäre es ein grober Fauxpas, dem international berühmten Quantenphysiker die fachliche Kompetenz für die Präsidentschaft abzusprechen. Doch woher kommt diese Wahrnehmung, dass der Cartellverband in der ÖAW so präsent sei?

Die Zahlen sprechen jedenfalls dagegen. Die Akademie der Wissenschaften unterteilt ihre Mitglieder in "wirkliche Mitglieder", "Ehrenmitglieder" und "korrespondierende Mitglieder" im In- und Ausland. Von 261 wirklichen Mitgliedern der ÖAW sind allerdings nur 14 auch Mitglieder in Verbindungen des ÖCV. Von 16 Ehrenmitgliedern ist eines CVer und von insgesamt 489 korrespondierenden Mitgliedern halten sieben ebenfalls eine Mitgliedschaft in Cartellverbindungen. Laut diesen Zahlen beläuft sich der Prozentsatz von CVern innerhalb der Akademie der Wissenschaften insgesamt auf nur rund 2,9 Prozent.

Auch an den zehn untersuchten Universitäten widersprechen die tatsächlichen Zahlen dem Mythos vom omnipräsenten Cartellverband.

Nach absoluten Zahlen befinden sich unter den Mitarbeitern der Universität Wien die meisten Cartellbrüder. Fünfzig Mitglieder des Cartellverbands haben wir hier insgesamt gefunden. Angesichts der untersuchten Anzahl an Menschen, die sich auf mehr als 6.000 beläuft, machen diese jedoch nicht einmal ein Prozent der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus. Was sich in der Analyse jedoch zeigt: Auf Leitungsebene existiert häufig ein höherer Anteil an CV-Mitgliedern. So beträgt dieser an der Johannes-Kepler-Universität Linz 6,8 Prozent, an der Karl-Franzens-Universität Graz 10 Prozent und an der Montanuniversität Leoben 17,7 Prozent. Die rechtswissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten sind insgesamt ebenfalls deutlich CV-lastiger als die anderen.

Einen besonderen Stellenwert nehmen auch technisch-naturwissenschaftliche Studien ein. An keiner anderen Universität zeigt sich das so deutlich wie an der Montanuniversität Leoben. Die drei Institute mit den österreichweit höchsten Anteilen an CV-Mitgliedern sind alle an dieser Universität zu finden. Während ein Institut, der Lehrstuhl für Petroleum and Geothermal Energy Recovery, nur deshalb über einen hundertprozentigen Anteil verfügt, weil nur ein Mitarbeiter angeführt ist, sind am Lehrstuhl für Spritzgießen von Kunststoffen vier von insgesamt sieben Mitarbeitern in Verbindungen organisiert. Ein besonders auffälliges Beispiel für CV-Häufungen in einem Universitätsinstitut ist der Lehrstuhl für Thermoprozesstechnik an der Montanuniversität. Insgesamt sind acht von 22 wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in CV-Verbindungen korporiert, also rund 36 Prozent. Noch auffälliger: Bis auf einen sind alle bei derselben Verbindung, der Glückauf Leoben.

Wirtschaftswissenschaften und Juristerei

Die Zahlen belegen auch: Mitglieder von CV-Verbindungen scheinen klare Präferenzen bezüglich ihrer Studienrichtung zu haben. Im Gesamtverzeichnis des Österreichischen Cartellverbands liegt mit mehr als 1200 Nennungen das Studium der Rechtswissenschaften an erster Stelle. Zählt man die verschiedenen Formen der Betriebswirtschaft zusammen, die angeführt werden, kommen auf diese Richtung beinahe 1000 Mitglieder. An dritter Stelle mit etwas weniger als 800 Nennungen liegt Medizin. Diese Rangliste spiegeln auch die Zahlen der Studienanfänge von ÖCV-Mitgliedern wieder. In absoluten Zahlen dominieren im Verzeichnis allerdings jene, die keine Studienrichtung angegeben haben.

Die Gründe für die einschlägigen Vorlieben bezüglich der Studienwahl sieht der Netzwerkforscher Harald Katzmair im Traditionsbezug verwurzelt. Allerdings verweist er auch auf die Proportionen der Studierendenzahlen.

"Es ist immer so, dass die traditionellen Teile einer Gesellschaft eher langsame Zyklen besetzt halten. Die Juristerei ist eine klassisch langsame Kraft", sagt Netzwerkforscher Harald Katzmair.
paroli

Florian Tursky und Lorenz Stöckl, die das Amt des Vorortspräsidenten innehatten bzw. -haben, führen ähnliche Gründe an. Manchmal sei aber auch schlichtweg Pragmatismus ausschlaggebend.

"Eine Verbindung kostet viel Zeit, viel Engagement, und natürlich ist das an einer Fachhochschule schwieriger. Natürlich sind das auch Studien, die unter Anführungszeichen zu unserer Ideologie besser passen." Florian Tursky und Lorenz Stöckl
paroli

Der Cartellverband sieht sich als meinungsprägende Organisation. Dementsprechend wäre eine Überschneidung mit den Hochschulvertretungen naheliegend. Auf der Ebene der Universitätsvertretung der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) sind CV-Mitglieder allerdings nur an drei der untersuchten Universitäten vertreten. Sie sind alle in der Fraktion AktionsGemeinschaft (AG) organisiert. An der Montanuniversität Leoben sind alle drei männlichen AG-Funktionäre auch Mitglieder im Cartellverband. An der Karl-Franzens-Universität Graz sind es zwei, an der Johannes-Kepler-Universität Linz immerhin vier Mitglieder.

Diese Zahlen liegen unter anderem darin begründet, dass der Cartellverband der ÖH prinzipiell sehr kritisch gegenübersteht. Anhand der offiziellen Aussendungen des ÖCV zu Universitätsanliegen im Lauf der letzten Jahre lassen sich ein paar Grundinhalte zusammenfassen. Ginge es nach dem Cartellverband, würde die ÖH-Bundesvertretung abgeschafft und die gesamte Hochschülerschaft zugunsten der lokalen Vertretungen umstrukturiert. Die ÖH wird in den CV-Aussendungen immer wieder diffamierend beschrieben, etwa als "schamlose ideologisierende Chaostruppe", "linke Utopisten" oder "weltfremde linke ÖH-Exekutive". Darin zeigt sich die ideologische Diskrepanz zwischen den beiden Seiten. Der Cartellverband warf der ÖH auch schon Diskriminierung religiöser Studentinnen und Studenten vor, weil diese in einer Jobausschreibung "antiklerikale" Bewerber gewünscht hatte.

Einige CV-Mitglieder wiederholen diesen Vorwurf im Gespräch. Sie seien nicht diejenigen, die Postenschacher betreiben, ganz im Gegenteil würden sie sogar aufgrund ihrer Weltanschauung und Vereinsmitgliedschaft diskriminiert und bei Postenbesetzungen benachteiligt.

Vor drei Jahren war es der Rechtswissenschafter Josef Marko, Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz, der sich übergangen fühlte. Marko bewarb sich um den Posten als Rektor der Universität Graz. Im Bewerbungsprozess sei er sowohl im öffentlichen als auch im geschlossenen Teil der Rektorenhearings mehrmals nach seiner CV-Mitgliedschaft gefragt worden und wurde schlussendlich nicht als Rektor bestellt. Daraufhin legte Marko beim Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen Beschwerde ein, wegen Diskriminierung aufgrund der eigenen Weltanschauung.

Videoreportage von der Uni Graz.
paroli

Exzellenzförderung und Studiengebühren

Der Cartellverband spricht sich für Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen aus, ganz im Sinne einer Exzellenzförderung. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Studierendenproteste rund um die Besetzung des Audimax an der Universität Wien im Jahr 2009 vom ÖCV kritisiert wurden. Es handle sich um keine studentische Massenbewegung sondern um "Proteste einiger linker Gruppierungen, die oft vertrackte, gestrige gesellschaftspolitische Forderungen" vorbringen würden, verlautbarte der damalige ÖCV-Präsident Christoph Gruber in einer Presseaussendung im Oktober 2009. Die Besetzung behindere den Studienbetrieb, und alle rechtlichen Mittel sollten ausgeschöpft werden, um die Besetzer zu entfernen. Als das Audimax wenige Monate später tatsächlich geräumt wurde, sandte der ÖCV erneut eine Pressemitteilung aus, in der von "großen Kosten, zweifelhafter Wirkung" die Rede war und die Räumung begrüßt wurde.

Die Universitätsvision des ÖCV spiegelt das Selbstbild wider: "Wir müssen uns Förderungsmöglichkeiten überlegen, die vor allem dem Leistungsgedanken Rechnung tragen", verkündete der aktuelle Präsident des ÖCV, Lorenz Stöckl, in einer Aussendung im Juli 2014. Studienbeiträge sollen autonom von den Universitäten eingehoben werden dürfen, die gleichzeitig erhöhten Stipendien sollen an den Studienerfolg gekoppelt werden. Außerdem sollen die Universitäten selbst entscheiden dürfen, ob sie Zugangsbeschränkungen einführen wollen.

Kritik an der Regierung gab es aus den Reihen des Cartellverbands im Jahr 2013, als die Zusammenlegung des Wirtschafts- und Wissenschaftsministeriums beschlossen wurde. Der ehemalige Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle, der in der Sternkorona Hall im MKV korporiert ist, wurde durch Reinhold Mitterlehner, der bei der Austro-Danubia ist, abgelöst. Es herrschte Angst, das Wissenschaftsministerium würde im größeren Ressort untergehen. Ansonsten sind Synergien zwischen Wirtschaft und Wissenschaft aber durchaus gewünscht. Das Finanzierungsmodell der Universitäten nach dem ÖCV würde eine Finanzierung durch öffentliche Gelder, private Drittmittel und individuelle Studienbeiträge bedeuten.

"Das Eigenbild des ÖCV war zu meiner Zeit bei einer bestimmten Gruppe immer: 'Wir sind die Elite.' Ich frage mich: Die Elite von was?" Gerald Loacker, Neos-Abgeordneter

Die Betonung der Exzellenzförderung lässt den Schluss zu, dass auch die Mitglieder des CV sich zu der Gruppe der Leistungsträger zugehörig fühlen. "Aus den Akademikern entwickelt sich eben normalerweise die Elite eines Landes", sagt der ehemalige CV-Präsident Florian Tursky im Interview. Der ehemalige CVer, Neos-Abgeordneter Gerald Loacker, sieht das kritisch: "Das Eigenbild des ÖCV war zu meiner Zeit bei einer bestimmten Gruppe immer: 'Wir sind die Elite.' Ich frage mich: Die Elite von was? Vom Studium sicher nicht, wenn man sich Noten und Studiendauer ansieht."

Es scheint, als habe sich die Rolle des Cartellverbands an den österreichischen Universitäten gewandelt. Während in der Öffentlichkeit noch über die Macht des Netzwerks spekuliert wird, zeigen die Zahlen, dass der CV zumindest mehrheitlich keine bedeutende Rolle mehr spielt.

"Also ich glaube, dass die Zeit vom CV am Juridicum vorbei ist. Großen Einfluss würde ich ihm nicht mehr zuordnen. Aber es gibt schon merkbare, noch heute fortlebende Konsequenzen aus dem CV", sagt der Steuerexperte Werner Doralt.
paroli

Mit dem Anwachsen der Studierenden- und Akademikerzahlen verringert sich der Anteil von CVern unter der gesamten Studentenschaft, auch wenn der Verband in absoluten Zahlen so stark ist wie noch nie. Im Großen und Ganzen spielt der CV aber an den Universitäten nur mehr eine untergeordnete Rolle. Auch wenn dort manche seine stärkste Basis sehen.