Hat täglich mit Onlinedelikten im Internet zu tun und hält es für überlegenswert, anonyme Botschaften zu verbieten: Raimund H. Drommel.

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"Nicola du falsche Drecksau! Du liebst den Felix und fiekst mit ihn am Tor - Pass blos auf was noch passiert." Diesen anonymen, vor Fehlern strotzenden Text legt Raimund H. Drommel gern Studenten in Linguistik-Seminaren vor. Sie sollen anhand der paar Zeilen - es handelt sich um die wörtliche Übersetzung einer im antiken Pompeji an eine Wand geritzten Drohung - ein Täterprofil erstellen. Die Worte dürften, wie Drommel in seinem Buch mit dem Titel "Der Code des Bösen" (Heyne) schreibt, von einer jüngeren Frau mit geringem Bildungsstand geschrieben worden sein. Offensichtlich handle es sich um eine Beziehungsangelegenheit. Tatmotiv: Eifersucht, verletzte Eitelkeit.

Mehr als 1000 Fälle von Erpressung, Drohung, Mobbing, zuweilen auch Mord, hat der linguistische Forensiker Drommel, den sie in Deutschland schon als "Jäger der entlarvenden Worte" bezeichnet haben, in den letzten drei Jahrzehnten bearbeitet. Viele davon löste der 1946 geborene Bayer auch, der für sich den Ausdruck "Sprachprofiler" bevorzugt.

Denn die Spuren, die an "sprachlichen Tatorten" hinterlassen werden, so der im ganzen deutschen Sprachraum tätige Profiler, seien oft ebenso unverwechselbar wie die Rillen eines Fingerabdrucks. Wobei die Analyse auf verschiedenen Ebenen stattfindet, etwa mittels computergestütztem Vergleich des Tatmaterials mit Texten einer verdächtigen Person. Zu Drommels spektakulärsten Fällen gehören ein Brief des 1987 tot in der Badewanne eines Genfer Hotels aufgefundenen deutschen Politikers Uwe Barschel (er hat ihn laut Drommel selbst geschrieben) und auch der österreichische Tierschützerprozess, bei dem Drommel die Schlussfolgerungen des gerichtlich beigezogenen linguistischen Gutachters - es ging um Bekennerschreiben - heftig kritisierte und ins Wanken brachte.

STANDARD: Sprache ist in Ihrer Arbeit im übertragenen Sinn eine Tatwaffe?

Drommel: Auch im wörtlichen Sinne. Manche "Unwörter des Jahres" können auch somatischen Schmerz bereiten. "Böse Worte" in Droh- oder Schmähbriefen können derart verletzen, dass sie Schock- oder Angstzustände oder gar Herzinfarkte auslösen. Schülermobbing hat weltweit Jugendliche in den Suizid getrieben.

STANDARD: Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, dass Frauen in der sprachlichen Gewalt Männern nicht nachstehen.

Drommel: Frauen übertreffen Männer sogar in der Regel deutlich, was die sprachliche Gewalt betrifft. Das liegt sicherlich zum einen daran, dass Frauen im Allgemeinen beziehungsorientierter sind als Männer. Für die stärker ausgeprägte sprachliche Gewalt habe ich nur eine westentaschenpsychologische Erklärung: Da Frauen Männern in der Regel physisch unterlegen sind, versuchen sie dies nach dem Kompensationsprinzip durch übertriebene verbale Härte auszugleichen.

STANDARD: Wie sieht es mit dem Tatort Internet aus?

Drommel: Das Internet hat die Welt des Verbrechens grundlegend verändert. Nachrichten gehen sekundenschnell um den Globus. Früher wurden Menschen an den Pranger gestellt - und das Dorf schaute zu. Heute schaut die ganze Welt zu. Enthauptungsakte durch Terroristen sind auf Videos zugänglich. Und was die "Kommunikation" betrifft, so argumentieren nicht wenige Experten, im Internet tobe der dritte Weltkrieg. Bei sprachlichen Auseinandersetzungen im Internet werden die Grenzen zu Straftatbeständen schnell überschritten, was auch daran liegen mag, dass viele das Internet als einen rechtsfreien Raum betrachten. Ferner steht man seinem Opfer nicht mehr Aug' in Aug' oder Ohr an Ohr gegenüber, sondern fühlt sich weit von ihm entfernt. Die sprachlichen Attacken, insbesondere aus der Anonymität heraus, haben den Charakter von Drohnenangriffen.

STANDARD: Sie plädierten in einem Vortrag dafür, in der Onlinekommunikation anonyme Botschaften zu verbieten.

Drommel: Ich weiß - ein sehr heikles Thema. Ich plädierte jedoch so nicht als Sprach- und Geisteswissenschafter, sondern als Kriminalist und als Sprachprofiler, der täglich mit einschlägigen Onlinedelikten befasst ist. Hierbei muss ich gleichwohl zweierlei unterscheiden: erstens meine intuitive, ganz subjektive und sehr persönliche Abneigung gegenüber anonymen Botschaften, zweitens die dialektische Behandlung und den trefflich kontrovers zu diskutierenden Umgang mit dieser Frage. Das sogenannte Vermummungsverbot bei öffentlichen Veranstaltungen gilt nicht für die (ebenfalls öffentliche) Onlinekommunikation, etwa für Forenbeiträge. Bei der Diskussion von Für und Wider einer Verbotsregelung spielt als Gegenthese das Recht auf freie Meinungsäußerung eine zentrale Rolle.

STANDARD: Wie hat sich die Sprache der Chat-Generation oder Digital Natives aus der Sicht des Linguisten verändert? Stimmt das Vorurteil, dass Jüngere über einen geringeren Sprachschatz verfügen?

Drommel: Das ist ein altes Vorurteil. Schon in der Antike hat man sich über den Niedergang der Sprache und den geringeren Sprachschatz der Jugend beschwert. Das Wechselspiel zwischen Trägheit und Ökonomiebestreben einerseits und dem Verständigungs- und Differenzierungswillen andererseits sorgt dafür, dass der Sprachschatz im Laufe der Entwicklung einer Sprache nicht geringer wird. So sehen die meisten Linguisten auch die Diskussionen um "Denglisch" mit gelassener Distanz.

Wir reden hier noch immer von einer natürlichen Sprachentwicklung, auch wenn sie durch die neue Medientechnologie rasend schnell voranschreitet. Anders - und viel problematischer - verhält es sich da mit künstlichen Eingriffen in die Sprache - wie etwa durch die Rechtschreibreform, der man Sprachverfälschung und Reduktion des sprachlichen Differenzierungspotenzials vorhalten kann. Nein, die Jüngeren finden in ihrem sozialen Kontext ihren eigenen Zugang über Sprache. Ihr Sprachschatz ist jedoch nicht geringer, sondern anders, von einer anderen Qualität. Jugendliche schöpfen zum Beispiel neue Begriffe, Phrasen und Idiome. Scheinbare Stummelbotschaften oder komprimierte - "gezippte" - Nachrichten des Senders müssen vom Empfänger wieder dekodiert und vervollständigt, also "ausgepackt" werden. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 6.11.2014)