Tripolis/Kairo - Die Auflösung des libyschen Parlaments am Donnerstag war nicht das erste Mal, dass das höchste Gericht des Landes sich mit einem Urteil in den Machtkampf eingemischt hat: Im Juni hatte die Institution die Wahl eines rivalisierenden Premiers für illegal erklärt. Dieser Entscheid wurde damals akzeptiert. Das wird dem aktuellen Urteil nicht mehr vergönnt sein.

Denn inzwischen ist Libyen zwischen zwei Parlamenten und zwei Regierungen aufgeteilt, die von rivalisierenden militärischen Kräften gestützt werden. Das Verfassungsgericht tagte in der Hauptstadt Tripolis, die unter der Kontrolle der islamistischen Kräfte der Koalition "Morgenröte" steht. Richter und ihre Familien seien von diesen Milizen bedroht worden, meldeten Medien in den vergangenen Tagen. Ein islamistischer Abgeordneter hatte das Gericht angerufen, um über die Verfassungsmäßigkeit des im Juni gewählten Parlamentes zu befinden.

"Unter Gewaltdrohung"

Die Richter bemängelten nicht nur Formfehler, weil das neue Parlament aus Sicherheitsgründen in Tobruk und nicht, wie in der Verfassungserklärung vorgesehen, in Bengasi tagt, sie erklärten den ganzen Wahlvorgang für illegal.

In einer ersten Reaktion erklärte der Sprecher des Parlaments in Tobruk, der Entscheid werde nicht anerkannt, weil er unter Androhung von Waffengewalt zustande gekommen sei. Das Urteil des höchsten Gerichts, gegen das nicht berufen werden kann, stürzt auch die internationale Gemeinschaft in ein Dilemma. Sie hatte das Parlament in Tobruk und die Regierung von Abdullah al-Thinni als einzig legitime Institutionen anerkannt und mit der rivalisierenden Administration keine Kontakte unterhalten. Ein Vertreter der nichtgewählten Gegenregierung, die offensichtlich mit diesem Spruch gerechnet hatte, hatte vor einigen Tagen bereits Neuwahlen als einzige Lösung des politischen Chaos propagiert. Ihre Anhänger feierten in Tripolis ihren Gerichtstriumph als "Rückkehr des Rechtsstaates".

Noch ist völlig offen, welche Dynamik die Richter mit ihrem Urteil auslösen werden, denn der Machtkampf in Libyen wird nicht nur mit politischen und juristischen Ränkespielen ausgetragen, sondern auch mit schweren Waffen und ausländischer Einmischung. Mitte Oktober hat die reguläre Armee zusammen mit den Truppen von Ex-General Khalifa Haftar, die von den nationalen Kräften unterstützt werden, eine weitere Offensive gestartet, um Bengasi zurückzuerobern. Die Islamisten, unter ihnen Ansar al-Sharia, wurden aus einigen Stadtteilen vertrieben, leisten aber in mehreren ihrer Hochburgen erbitterten Widerstand, zum Beispiel im Hafenviertel. Seit Montag sind erneut fast 40 Tote gezählt worden. Insgesamt beträgt die Bilanz auf beiden Seiten rund 300 Opfer. Hunderte Familien mit Wurzeln in Misrata sind geflüchtet, aus Angst vor Racheakten der Haftar-Truppen.

Im Westen konzentrieren sich die Gefechte immer noch auf die Nafusa-Berge südlich von Tripolis, wo die nationalen Kräfte ihr Zentrum in der Stadt Zintan haben. Umstritten ist vor allem die Stadt Kikla. Aus dieser Region wurden in den letzten Wochen über 150 Tote, meist Zivilisten, gemeldet. Amnesty International wirft allen libyschen Milizen vor, Kriegsverbrechen zu begehen. (Astrid Frefel, DER STANDARD, 7.11.2014)