
Der litauische Weltliterat Tomas Venclova in Wien.
Wien - Der europäische Norden ist als Weltgegend, die in Skandinavien ihre ganze Pracht entfaltet, um in der Arktis spurlos zu verschwinden, schwer zu vermessen. "Nørden" steht als Sehnsuchtswort über dem heute beginnenden Literaturfestival Literatur im Herbst, das die Alte Schmiede im Wiener Odeon veranstaltet. Und es erscheint nur folgerichtig, finnische und lappländische Beiträge mit solchen aus Norwegen, Island, Grönland, Russland et cetera zu konfrontieren.
In den spröden Gedichten des litauischen Weltliteraten Tomas Venclova (77) gibt es ein anderes, knochenbleiches Nordeuropa zu besichtigen. Es entspringt an der Einmündung des Flusses Memel in die Ostsee. Ihm inmitten liegt Litauen.
Das baltische Land wurde in Venclovas Jugendjahren Sowjetrepublik. Und während Tomas in Vilnius studierte, textete sein Vater, ein um den sozialistischen Aufbau verdienter Stalinpreisträger, die Regionalhymne. "Meine Familie war ein Teil der sowjetischen Elite", stellte Venclova später lakonisch fest.
Für ihn waren recht bald andere Heldinnen und Helden maßgeblich. Der Student der russischen Literatur und der Lituanistik besuchte Anna Achmatowa und Boris Pasternak. Die noch lebenden Exponenten des Silbernen Zeitalters der russischen Poesie empfingen den angehenden Semiotiker aus der kleinen Teilrepublik als einen der Ihren.
Familienmitglied Tod
Venclova engagierte sich folgerichtig in der litauischen Bürgerrechtsbewegung. Als Untergrundliterat wurde er wiederholt Zeuge von Mordtaten, die zumindest mit wissender Duldung der Staatssicherheitsorgane geschahen. "Mich ereilte die Jahrhundertmitte", heißt es in dem Gedicht Nel Mezzo del Cammin di Nostra Vita (1976): "Ich lebte, doch ich lernte, nicht zu sein. / Der Tod war mir wie ein Familienmitglied / Und nahm den größten Teil der Wohnung ein. (...)" Es ist nicht verwunderlich, dass Venclova 1977 in die USA auswanderte. In der Einsamkeit des Exils im US-Staat Connecticut wurden Venclovas Gedichte noch introvertierter.
Das von ihm beschriebene Küsten- und Marschland unterliegt einer rätselhaften Bleiche und Auszehrung. Venclovas häufig daktylische Poesie sucht das Zwiegespräch mit dem Vakuum. Die Zeit scheint "wie mit Kerzenwachs versiegelt", der "raue Raum des Winters weitet sich"; Felder liegen kahl vor dem Betrachter "wie aufgesperrte Säle". Das trunkene Feuer des von der Welt ergriffenen Poeten sucht man hier vergeblich. Noch im Exil hält Venclova fest: "Es gibt etwas Wichtigeres als Hoffnung." Und so begnügt das Auge sich "mit der Leere auf Erden".
Venclovas Weltliteratur, die seit langem von vielen als Nobelpreis-würdig angesehen wird, lebt von der Fähigkeit des Menschen, vor der Gleichgültigkeit der gewöhnlichen Dinge zu bestehen. Nach dem Mauerfall kehrte Venclova wiederholt in seine Heimat zurück. Er erlebte den Schock des Irrfahrers Odysseus. Venclovas wunderbare Poesie spiegelt den Umgang mit einer Welt, die dem Dichter Beherrschung abverlangt, weil sie sich zu Lebzeiten schon als postume zu erkennen gibt. Eine famose Auswahl aus Tomas Venclovas Werk, diesem stillen Gegenstück zu Joseph Brodskys Poesie, haben Claudia Sinnig und Durs Grünbein als Übersetzer und Nachdichter bereits 2007 getroffen. Der Band Gespräch im Winter ist bei Suhrkamp erschienen und nach wie vor lieferbar.
Venclova, langjähriger Professor an der Yale-Universität, sowie Grünbein sind Gäste der heute Abend beginnenden Veranstaltungsreihe. Für das Programm (u. a. mit Rosa Liksom, Aris Fioretos, Michail Eisenberg, Vladimir Sorokin) zeichnen Andrea Zederbauer und Erich Klein verantwortlich. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 7.11.2014)