Klaus Maria Brandauer gehört nicht zu denjenigen Schauspielern, die eine Rolle gerne aufsagen, weil sie schon im Vorhinein die Wirkung genießen, die sie mit ihr auf andere ausüben werden. Brandauer macht sich Gedanken. Er will dem Publikum diejenigen Mühen abnehmen, die es vom Verständnis der Sache: vom Erfassen der Rolle, des Stückes, der Aufführung abhalten könnten. Von Ahnungen hält KMB wenig. Was auf der Bühne gesagt werden soll, muss klar ausgesprochen werden. Klarheit ist Bestandteil der schauspielerischen Ethik. Brandauers Haltung ist daher unmissverständlich: "Ich muss verstanden werden."
1975 spielte Brandauer unter der Regie von Gerhard Klingenberg in Friedrich Schillers Kabale und Liebe den Ferdinand. Er sei sich, sagt KMB, seiner Qualitäten damals im höchsten Maße bewusst gewesen. Umso irritierender die Begegnung mit einer Dame, die ihn nach einer Probe unvermittelt ansprach. "Ich glaube Ihnen kein Wort", soll sie als Zeugin eines seiner Auftritte dem immer noch jugendlich wirkenden Genius ins Gesicht gesagt haben.
Aus Brandauers anfänglicher Verblüffung wurde Interesse. Die Frau machte sich erbötig, mit Brandauer an der vernünftigen Erschließung des Textes zu arbeiten. Aus der Feststellung des Mangels wurde eine bis zuletzt andauernde, immens fruchtbare Arbeitsbeziehung.
Der Name der Dame lautet Eva Heer. Ihr berühmterer Gemahl war der katholische Publizist, Historiker und Außenseiter Friedrich Heer (1916- 1983). Heer war ein privatgelehrtes Genie, dessen notorischer Eigensinn im Nachkriegsösterreich an Barrieren stieß und in Sackgassen führte. Jemanden wie den Privatdozenten und nachmaligen "außerordentlichen Professor" nannte man damals einen Linkskatholiken. In dem Wort schwingt unsichtbar das Kopfschütteln mit, das Heer mit seinen nimmermüden Bemühungen nicht nur in Kirchenkreisen hervorrief.
Im Dachzimmer der Burg
In seinen Schriften bemühte Heer sich um die Entzauberung vor allem solcher katholischen Dogmen, die über Gemeinwesen wie das österreichische viel Leid und Schmerz gebracht hatten. Sein Buch über den Glauben des Adolf Hitler erregte im Erscheinungsjahr 1968 regelrechtes Aufsehen. Heers Wirken scheint von dem Impuls getrieben worden zu sein, öffentliche Wirksamkeit zu beweisen.
Eine derartige Umtriebigkeit, gepaart mit universalem Wissen und eminentem Fleiß, konnte in der konservativen Alpenrepublik nur Anstoß erregen. Dazu kam Heers im ganzen Land bekannte Unbestechlichkeit. Der Anspruch auf geistige Autonomie wird einem in Österreich keinesfalls verziehen. Hier hält man bis heute das Prinzip der Vormundschaft für eine besonders innige Form von Zuwendung.
Friedrich Heers ungeradliniger Berufsweg führte ausgerechnet an das Theater. Der vormalige Redakteur der katholischen Wochenzeitung Die Furche wurde 1961 zum Chefdramaturgen des Wiener Burgtheaters bestellt. Direktor Ernst Haeusserman, ein ehemaliger Regieassistent des berühmten Max Reinhardt, gestand Heer wahrhaft himmlische Konditionen zu. Der Gelehrte verschwand während vieler Wochen und Monate in einem winzigen Dachzimmer, wo er die Muße zur Abfassung umfangreicher Bücher fand. Es konnten Jahre vergehen, ohne dass andere Burg-Beschäftigte dem Eigenbrötler jemals begegneten. Niemand behelligte Heer inmitten seines wenige Quadratmeter umfassenden Reichs mit Anweisungen oder Bitten.
Wünschte Haeusserman in Heers Gelehrsamkeit zu baden, aus ihrem Reichtum Ideen zu schöpfen, stieg er kurz entschlossen die Stufen zur Dachkammer hoch. Bürostunden standen damals im Besitz des Weltgeistes. Das Vertrauen in dessen Wirken muss grenzenlos gewesen sein.
Unaufhörliches Nachpolieren
Eva Heer bildet für Klaus Maria Brandauer bis heute die Nabelschnur zum Wesen der Vernunft. Jeder Satz oder Vers, den der Weltstar zu deklamieren sich anschickt, ist das Produkt eines Kalküls. Jedes einzelne Wort ist ausgehört, die Einheit jedes Gedankens ist rekonstruiert. Noch als Brandauer den Cyrano de Bergerac spielte, Rostands galanten Poeten mit der unmäßig langen Nase, verabschiedete er sich von den Proben mit dem Satz: "Ich geh jetzt zur Nachhilfe."
Sein Weg führte ihn zu Eva Heer, mit der er Text lernte. Das Handwerk kann nur beherrschen, wer seine Werkzeuge unaufhörlich überprüft und nachpoliert. Brandauers lebenslanger Widerwille gegen Regieübergriffe rührt her vom Ethos des Könnens. Was jemand auf dem Theater kann, zeigt er dadurch, dass er sein Handwerk zum Verschwinden bringt.
Göttlichkeit als Amt
Ein Regisseur, sagt Brandauer, muss eigentlich mehr können, als man füglich von ihm erwarten darf. Erst durch die Beachtung dieses illusorischen Anspruchs wächst ihm jene Bedeutung zu, die es ihm erlaubt, weniger zu sein, als das "Regietheater" von ihm verlangt. Der Regisseur ist das ideale Luftwesen. Ihm eignen gottähnliche Züge. Die Frage nach der Aufgabe des Regisseurs auf dem Theater wird gleichsam zur theologischen. Theologisch ist sie deshalb, weil sie nach dem Willen des Regisseurs fragt.
Der Widerwille gegen das moderne "Regietheater" ist Brandauer keineswegs fremd. Dieser Art von Polemik liegt der Abscheu vor Willkür zugrunde. Der "schlechte" Regisseur inszeniert nicht das Stück, das man ihm anvertraut hat. Er inszeniert, weil er nicht anders kann (und auch, weil er nichts anderes gelernt hat). Das schlechte Göttliche, das man dem Regisseur nachsagt, liegt in seiner Angewohnheit, Göttlichkeit tatsächlich als Amt auszuüben. Ein Regisseur, der nicht mehr alles inszeniert, was ihm zu einem bestimmten Stück einfällt, ist bereits ein Gott ohne Göttlichkeit. Sein schlechthin unendliches Vermögen hat er der Vernunft ausgeliefert. Diese hindert ihn an der unkontrollierten Verwirklichung seines Schöpfertums.
Einem klugen Theaterkopf wie Brandauer schwebt aber noch etwas anderes, schwer zu Verwirklichendes vor. Die Rede wäre von einem Gott, der auf seine Allmacht freudestrahlend Verzicht leistet. Das Beharren auf uneingeschränkter Willkür hingegen wäre ein Zeichen von Verstocktheit. Sein Produkt wäre schlechte Theologie. Dumme Regisseure sind missratene Götter; ihr Wirken ist kränkend, da man Dummheit zu Göttlichkeit in kein zu begründendes Verhältnis setzen kann. Unweigerlich landete man bei der Klage, die der umstrittene Staatsdenker Carl Schmitt (1888-1985) in seiner Politischen Theologie führte: "Die liberale Bourgeoisie will (... ) einen Gott, aber er soll nicht aktiv werden können; sie will einen Monarchen, aber er soll ohnmächtig sein; sie verlangt Freiheit und Gleichheit und trotzdem Beschränkung des Wahlrechts auf die besitzenden Klassen, um Bildung und Besitz den nötigen Einfluss auf die Gesetzgebung zu sichern, als ob Bildung und Besitz ein Recht gäben, arme und ungebildete Menschen zu unterdrücken; sie schafft die Aristokratie des Blutes und der Familie ab und lässt doch die unverschämte Herrschaft der Geldaristokratie zu, die dümmste und ordinärste Form einer Aristokratie; sie will weder die Souveränität des Königs noch die des Volkes. Was will sie also eigentlich?"
Brandauer wüsste womöglich eine Antwort. Sie wäre nur auf der Bühne zu geben, an einem Ort, der sich zur Wirklichkeit exterritorial verhält, ohne sie jemals entbehren zu können. Die Überzeugungskraft dieser Antwort läge nicht unbedingt in ihrem Wortlaut. Sie wäre eher an die Artikulation gebunden, an die Eleganz, mit welcher der Sprecher Eindruck macht, indem er für sich und sein Anliegen wirbt.
In der heiteren Überredungskunst liegt Brandauers ganzes ästhetisches Geheimnis: ein tänzelndes Haschen und Antäuschen, das mit der Verblüffung des Gegenübers wie des Zuschauers rechnet, wobei der Zuschauer das einzige Gegenüber ist, auf das hin die Wirkung berechnet wird. Brandauer hat in der allein für ihn geöffneten Privatschule Eva Heers das Gebot verinnerlicht, um jeden Preis zu überzeugen. Nur wer sich selbst glaubt, vermag andere in seinen Bann zu ziehen. Hinter dieser Binsenweisheit verstecken sich die Vorbehalte, die man der Kunst dieses völlig unvergleichlichen Schauspielers häufig genug entgegenbringt.
Späte Allianzen
Brandauer ist launig. Wo er Widerstände erkennt, bricht er sie durch Beredsamkeit. Manchmal reicht es völlig aus, mit wohllautender Stimme die Sprödigkeit von den Gegenständen herunterzuhobeln. Manchmal bildet auf der Bühne allein der Wohlklang die Richtigkeit eines Arguments ab. Logik und Schönheit erscheinen dann untrennbar miteinander verschmolzen. Ein einziger Schauspieler aus Brandauers Generation gebietet über eine ähnlich homerische Sprechsangeskunst. Die Rede ist von dem Schweizer Ifflandring-Träger und Schaubühnenschauspieler Bruno Ganz, einem langjährigen Weggefährten von Regisseur Peter Stein.
Brandauers späte Allianz mit Stein, dem grimmigen Entzifferungsbeauftragten unter den großen Inszenierungskünstlern, ist ganz gewiss kein Zufall. Brandauer: "Das richtige Betonen hat mich Fritz Kortner gelehrt. Von vielleicht ebenso großer Bedeutung war für mich aber die Schauspielerin Elisabeth Bergner." Die Wege der beiden kreuzten sich im Düsseldorfer Schauspielhaus, wo der legendäre Intendant Karl Heinz Stroux zur Mitte der 1960er-Jahre hin wohlgefällig auf den jungen Brandauer blickte. Brandauer sagt, die Bergner und er hätten einige Zeit gebraucht, um einander auf gleicher Höhe zu begegnen.
"Sie hatte eigentlich eine ,unmögliche' Aussprache. Sie besaß einen L-, einen S-, einen G-Fehler." Elisabeth Bergner war nicht nur ein Star des deutschsprachigen Theaters, sie meisterte an der Seite ihres Lebenspartners, des Regisseurs Paul Czinner, auch den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Sie lehrte Brandauer die Kunst, "im Fluss" zu sprechen, ohne Ausbrüche. "Die Temperatur", habe sie gesagt, "das ist der Mensch." (Ronald Pohl, Album, DER STANDARD, 8./9.11.2014)