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Nur noch wenige Mauerreste stehen heute in Berlin. Die Folgen der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands sind aber noch nicht überwunden.

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Schriftstellerin Ines Geipel erzählt in ihrem Buch "Generation Mauer" ihre eigene Geschichte als DDR-Spitzensportlerin (unten) und lässt Menschen zu Wort kommen, die unter dem DDR-Regime litten und in ihrer ersten Lebenshälfte permanent an Mauern und Grenzen stießen, aber - so wie Geipel - ihre zweite Chance nach 1989 ergriffen.

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Ines Geipel 1982 beim Leichtathletik-Sportfest in Köln.

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Neulich, bei Frank Plasberg, gab es wieder so einen Moment. Da war Ines Geipel, obwohl sie sich natürlich um Contenance bemühte, deutlich Frust und Unverständnis anzusehen.

Der ARD-Talker versuchte seinen Gästen Geistreiches zur Befindlichkeit von Ost und West 25 Jahre nach dem Fall der Mauer zu entlocken. Uwe Steimle - Kabarettist, Schauspieler, 1963 in Dresden geboren - schwärmte vom Zusammengehörigkeitsgefühl der kleinen Leute, der DDR-Hymne und auch von Pittiplatsch und Schnatterinchen - jenen Puppenfiguren des DDR-Fernsehens, die so bekannt und beliebt waren wie im Westen Familie Barbapapa.

"Ich gönne jedem ein sorgloses Leben", sagt Geipel ruhig und ohne Ironie, "aber diese DDR-Nostalgie kann ich nicht nachvollziehen." Wenn sie von ihrem ersten Leben, dem vor 1989, erzählt, dann finden Pittiplatsch und Schnatterinchen darin keinen Platz, weil Stasi-Terror, Doping-Missbrauch, Gewalt, Unterdrückung und Flucht sehr viel Raum für sich beanspruchen. Tausende Kilometer fährt die 54-Jährige in diesen Tagen und Wochen durchs wiedervereinigte Land, zu Lesungen, Diskussionen und Vorträgen. In den westlichen Bundesländern überkommt sie noch heute manchmal Wut. Dann fällt ihr an einem malerischen bayerischen See oder einer pittoresken Stadt wieder ein: "Das zu sehen war für uns DDR-Bürger nicht vorgesehen. Wir sollten hinter der Mauer verschimmeln."

Farben der Natur und der DDR

Die Natur ist zu dieser Jahreszeit ein zusätzlicher Erinnerungsgehilfe, das Grau und Braun des Novembers erinnern sie an die Farben der DDR. Nicht, dass Geipel jemals entfallen könnte, was alles passiert ist. Und doch sagt sie: "Gerade in dieser melancholischen Herbstlandschaft ist wieder alles sehr präsent."

Geipel kann und will nichts vergessen. Hinzunehmen, dass der Blick auf die DDR bei vielen milder oder nach dem Motto "Es war nüscht allet schlecht" auch verklärter wird, ist ihr unmöglich. Dass Soziologen ihre Generation als die "Glücklichen" in der DDR ansehen, mag sie so nicht stehenlassen. Natürlich, die Anfang der Sechzigerjahre Geborenen erlebten den Mauerfall 1989 zum biografisch besten Zeitpunkt, sie konnten danach im neuen Deutschland studieren, sich integrieren und durchstarten. Ein "Jahrhundertglück" also, mit einem halben Leben hier und einem halben dort und dem Mauerfall als Scharnier?

Im Jahr des Mauerfalljubiläums setzt Geipel diesen Überlegungen ein ganzes Buch entgegen. Generation Mauer (Klett-Cora-Verlag) heißt es, darin kommen Menschen zu Wort, die unter dem DDR-Regime litten und in ihrer ersten Lebenshälfte permanent an Mauern und Grenzen stießen. Die aber auch ihre zweite Chance nach 1989 ergriffen. Die Autorin lässt ihre eigene Geschichte nicht aus und sagt dennoch: "Ich habe kein Wutbuch geschrieben."

Verstehen könnte man es. Geipel wird im Sommer 1961, wenige Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer, in Dresden geboren. Die Familie lebt im "Weißen Hirsch", jenem Villenviertel der DDR-Elite, dessen Bildungsbürgertum auch Uwe Tellkamp in seinem Roman Der Turm beschreibt.

Doch bürgerlich geht es dort am Elbhang nicht zu. "Das Zivilste an meinem Vater war seine Schuppenflechte", schreibt Geipel. "Je mehr er sich in mir totzuschlagen versuchte, desto wunder wurde er. Sein Panzer schuppte."

Der Vater spielt Klavier, offiziell ist er Musiklehrer. Inoffiziell reist er als Stasi-Agent durch Westdeutschland, spioniert Menschen aus und bereitet Anschläge vor. Zu Hause drischt er die Kinder, vor allem Ines, die nicht aufhören kann, Fragen zu stellen. Jedes noch so kindliche Warum ist eine Provokation für den linientreuen Genossen. Es ist nur mit Abstand auszuhalten, also rennt ihm die Tochter davon. Sie läuft und läuft, um das "System Weißer Hirsch" auszuschwitzen.

Was auf den weiten Feldern rund um ihr Internat im Thüringer Wald beginnt, führt sie zum Sportclub Motor Jena und schließlich Anfang der Achtzigerjahre in die DDR-Leichtathletik-Nationalmannschaft. Geipel wird zur Weltklasse-Sprinterin, gemeinsam mit drei anderen Frauen stellt sie 1984 den bis heute gültigen Vereinsweltrekord über vier mal hundert Meter Staffel auf.

Die DDR braucht sie, denn es stehen die Olympischen Spiele in Los Angeles an, sie soll für die DDR siegen. Wie viele andere Athleten schluckt Geipel jede Menge Tabletten. Ob das auch okay sei, fragt sie einmal ihren Arzt. Sowieso, antwortet der, man wolle nur das Beste für die Athleten. Also fliegt sie ins Trainingslager nach Mexiko. Dort verliebt sie sich in einen mexikanischen Geher und plant ihre Flucht: Nach den Spielen in L.A. wird sie nicht mehr in die DDR zurückkehren.

Doch es kommt alles anders. Die Sowjetunion boykotiert Olympia, und die DDR schließt sich dem Boykott an. Der Geher wird Olympiasieger, aber für Geipel gibt es die Option Los Angeles nicht mehr. Doch sie hat, daheim in der DDR, einem Freund schon von ihren Fluchtplänen erzählt, und der informiert sofort die Staatssicherheit.

War sie naiv? Nicht vorsichtig genug? Es ist ein Leichtes, diese Fragen 30 Jahre später aus der Distanz und Sicherheit eines Berliner Lokals zu stellen - wenn schon unzählige unfassbare und schreckliche Geschichten über Bespitzelung in DDR-Familien erzählt worden sind. Geipel kennt die Frage, nimmt sie aber nicht übel. "Nie und nimmer habe ich annehmen können, dass dieser Mann mich verrät. Das war damals undenkbar", sagt sie.

Bauchraum durchschnitten

Es passiert doch. Der Verrat zieht massive "Zersetzungsmaßnahmen" nach sich. Nach einer Blinddarmoperation erwacht sie mit einem zwanzig Zentimeter langen Schnitt quer über den Bauch. Dass ihr absichtlich der Bauchraum durchschnitten wurde und sie keine Kinder bekommen kann, erfährt Geipel erst 20 Jahre später, als ein Berliner Chirurg den "strategischen Eingriff" in einer mühsamen Operation korrigiert.

Sie fliegt aus dem Sportclub, weil sie nicht der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) beitreten will und Freunde in der Jenaer Opposition hat. Auch das Germanistikstudium in Jena ist kein Spaziergang. Zwar gilt das kleine Institut als "Hort des bürgerlichen Humanismus", doch es erfolgt eine politische Exmatrikulation nach der anderen. Fünf ihrer Studienkollegen landen in der Psychiatrie.

Geipels Studium endet ebenfalls anders als geplant. Da sie als "politisch labil" gilt, wird ihr das Doktorandenstipendium entzogen. Die ansonsten für jeden Absolventen vorgesehene Vermittlung an einen adäquaten Arbeitsplatz fällt auch aus.

Und dann kommt der Sommer 1989 und mit ihm die quälende Frage: "Darf man gehen, wenn im eigenen Land große Dinge geschehen?" Sie darf, befindet Geipel, sie hat die "Schnauze voll". 1989 wird ihr persönliches Jahr der Befreiung, Welt- und Lebensgeschichte verlaufen synchron. Über die österreichisch-ungarische Grenze schlägt sie sich Ende August in den Westen durch, ist in Wien von der Opulenz der Stadt überfor- dert und landet schließlich mit ihren letzten Groschen im hessischen Darmstadt. Arbeiten, kellnern, funktionieren, durchkommen, überleben - so ziehen die ersten Wochen im fremden Teil Deutschlands vorbei.

25 Jahre später sitzt Geipel im Ostberliner Frauenzentrum Paula Panke 40 Frauen und einem Mann (kein Scherz) gegenüber. "Lesung und Gespräch" stehen auf dem Programm, es gibt Rotwein und Pfefferminztee. Geipel liest mit ihrer ruhigen, klaren Stimme aus dem Buch, manches erzählt sie aus der Erinnerung. Doch auch viele der Frauen wollen etwas loswerden und über ihre eigene Geschichte reden. Es sind so viele unterschiedliche, dass an diesem Abend besonders deutlich wird: Die eine Generation Mauer existiert nicht.

Als Geipel ihre erste Zeit in Darmstadt schildert, zeigt sich eine Bruchlinie sehr deutlich: jene zwischen denen, die gingen, und jenen, die blieben. "Ihr seid feige, ihr verpisst euch und lasst uns zurück, anstatt es mit uns durchzustehen", habe sie damals über die Abtrünnigen gedacht, erklärt eine der Frauen, und andere nicken zustimmend. "Ehrlich gesagt, euch hatte ich nicht im Kopf, ich wollte nur weg, und das war mühsam genug", erwidert eine andere, die wie Geipel wenige Monate vor dem Mauerfall die Flucht wagte.

Auch Geipel hört diesen Vorwurf der Fahnenflucht immer wieder, sie kann ihn auch nachvollziehen. 1989 jedoch stehen bei ihr andere Überlegungen im Vordergrund. Sie will reisen und lesen. Auch jene Bücher, die in der DDR allerhöchstens mühsam als "Bückware" zu organisieren waren: Sigmund Freud, Ingeborg Bachmann, Baudelaire.

Und dann musst du das ja auch erst einmal schaffen, allein in der herbstlichen Dunkelheit über die grüne Grenze zu robben. Selbst ein sportlicher und trainierter Körper ist nicht vor Angst gefeit.

Der Lohn kommt nach der Ankunft in Darmstadt, wo Geipel einen Moment größter Freiheit erlebt: "Wenn du niemandem angehörst und nichts besitzt." Doch bald entpuppt sich der Westen, einst bunte Verheißung und Ort der Sehnsucht, als einzige große Überforderung. Fremd sind die Geräusche, nagend die einsamen Stunden. Den Westen mit all seinen Codes muss sie erst einmal erlernen.

Das geschieht zunächst im rosa Dirndlkleid mit weißen Puffärmeln. Dienstkleidung in einer Weinstube, wo sie Getränke serviert, von denen sie keine Ahnung hat. Auch am 9. November 1989. Am Ecktisch hockt eine alte, aber quietschfidele Prinzessin aus einem hessischen Fürstenhaus, im Nebenzimmer läuft der Fernseher. "Schauen", befiehlt ihr türkischer Chef Hakki spätabends, und Geipel sieht all diese Bilder von den glücklichen, lachenden und weinenden Berlinern, die durch die offene Mauer von Ost nach West strömen. Sie selbst verspürt in diesem Moment einfach nur Freude, "ohne Wenn und Aber".

Sicherheitspuffer zur DDR

Bald hängt das Dirndl am Nagel, Geipel geht wieder zur Uni, sie studiert Soziologie und Philosophie, reist endlich durch die Welt, nur nicht nach Hause. Erst 1996 trifft sie die Eltern wieder. Es ist auch das Jahr, in dem Geipel nach Berlin zieht - ins Kreuzberger Westberlin, mit Sicherheitspuffer zur alten DDR.

Doch das System lässt sie nicht los, dieses Schweigen über die Vergangenheit, die Verdrehung von Tatsachen, die Verdrängung. Kaum je kann man sicher sein, dass das Gegenüber wirklich die Wahrheit erzählt - nicht einmal oder schon gar nicht die eigene Mutter. Geipel fährt ins Bundesarchiv und merkt: "Dort liegt sie, die DDR, in ihren Akten, Beschlüssen und Protokollen. 40 Jahre lang hatte sie geschwiegen, waren Menschen, Schicksale, Namen, Geschichten verschwunden. Nun wird sie reden müssen."

Es gibt so viel aufzuarbeiten, von so vielen Schicksalen zu berichten. Geipel veröffentlicht nicht nur ihre eigenen Romane und Gedichte, sondern gibt auch den Vergessenen eine Stimme. Der Schriftstellerin Inge Müller etwa, Ehefrau des Dramatikers Heiner Müller, die sich 1966 das Leben nahm und deren Werke in der DDR nicht publiziert wurden, weil Selbstmorde einfach vom System nicht vorgesehen waren.

1999 gibt sie den Band Die Welt ist eine Schachtel heraus, lässt die DDR-Autorinnen Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker zu Wort kommen. Dieses Buch und die Veröffentlichungen zu Inge Müller bilden den Grundstock für das 2001 von Geipel und ihrem Schriftstellerkollegen Joachim Walther aufgebaute "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR". Es umfasst heute mehr als einhundert Vor- und Nachlässe von Autoren, deren Werke in der DDR nicht verlegt wurden.

Sie schreibt über Doping und Depressionen, porträtiert verfemte Autorinnen, die die unmenschlichen Haftbedingungen in der DDR nicht überlebten, und erzählt gemeinsam mit dem Historiker Andreas Petersen Unerzählte Leben unter dem SED-Regime.

Die besondere Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit beginnt 1999 mit einem Anruf aus Heidelberg. Am Apparat ist Werner Franke, einer der führenden Krebsforscher Deutschlands und engagierter Gegner von Doping im Leistungssport. Er gewinnt Geipel dafür, als eine von 22 Nebenklägerinnen im Hauptprozess um DDR-Zwangsdoping aufzutreten.

Am Ende wird Manfred Ewald, der langjährige Chef des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), wegen Beihilfe zur Körperverletzung in zwanzig Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und Geipel als Dopingopfer anerkannt.

Ein "fades Urteil" befindet sie, es reicht ihr nicht. 2005 ersucht sie den Deutschen Leichtathletik-Verband, ihren Namen aus der Rekordliste zu streichen. Schließlich ist der unter Dopingeinfluss zustande gekommen. Für sie selbst eigentlich "eine klare Sache". Doch es dauert, die Auseinandersetzung ist mühsam, auch die drei ehemaligen Mitläuferinnen reagieren mit Unverständnis. Doch am Ende sagt Geipel nicht unzufrieden: "Ich bin jetzt ein Sternchen." Ihr Name steht seither nicht mehr in der ewigen Bestenliste, stattdessen eben ein kleiner Stern.

Dass sie als Vaterlandsverräterin beschimpft wird, nimmt Geipel hin. Selbst als sie auf der Straße zusammengeschlagen wird, lässt sie sich nicht von ihrem Kampf gegen Doping im Sport abbringen. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins (DOH) und kämpft um staatliche Pensionen für Dopingopfer.

Ihr Engagement - auch für die vergessenen Literaten der DDR - hat ihr das Bundesverdienstkreuz eingebracht. Gab es da Genugtuung? Oder vielleicht sogar Stolz? Geipel lacht und sagt: "Ein Kreuz muss man ertragen können." Und dass es sie schützt. Sie weiß, dass sie für viele Ostalgiker die nervige Tante aus dem Osten ist, die niemals Ruhe gibt und ewig die Finger in Wunden bohrt. Dann wenigstens nervige Tante mit Bundesverdienstkreuz. Das hat schon mehr Gewicht.

Aber das soll keine Beschwerde sein, schon gar nicht im Erinnerungsjahr. "Dieser Herbst verändert sehr viel", sagt Geipel und man hört, dass es sie auf bescheidene Art froh macht. Sie merkt, wie dankbar viele Menschen sind, dass da jemand das Unrecht nicht vergessen und verschwinden lassen will. Manchmal kostet es große Kraft, all das Leid und diese gebrochenen Biografien anzuhören und auszuhalten. Aber sie macht weiter, ganz selbstverständlich. Es gibt noch so vieles, was ins Helle gebracht werden muss. Pittiplatsch und Schnatterinchen werden eher nicht dabei sein. (Birgit Baumann, Album, DER STANDARD, 8./9.11.2014)