Enormes Potenzial schlummert noch unter den Dächern der Wiener Gründerzeitbauten, sagen Experten.

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Mittlerweile wird auch mit Wohnungen auf Gewerbeflächen experimentiert.

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Wien braucht bis 2025 rund 100.000 neue Wohnungen, also etwa 10.000 in jedem Jahr bis dorthin. Dann wird Wien nämlich fast schon wieder die zwei Millionen Einwohner haben, die die Hauptstadt auch vor genau 100 Jahren schon einmal hatte. Damals allerdings sogar nur "auf einem Zehntel der bebauten Fläche von heute", sagte Christoph Schremmer vom Österreichischen Institut für Raumplanung (ÖIR) kürzlich auf einer AK-Tagung zum Thema Stadtwachstum in Wien.

Die Wohnfläche pro Person hat sich seit damals nämlich vervielfacht. Im Jahr 2013 hatte jede Wienerin und jeder Wiener laut aktuellen Zahlen der Statistik Austria genau 37,9 Quadratmeter zur Verfügung, selbstverständlich nur im Durchschnitt. Der Wert ist seit 2009 in etwa gleich geblieben.

1910, als es noch das System der "Bettgeher" gab, "war es zumindest in Arbeitervierteln noch so, dass man nicht mehr als viereinhalb oder fünf Quadratmeter zur Verfügung hatte", sagte Schremmer.

Überbelag versus Leerstand

Mit solch krassen Zuständen hat man heute nicht mehr zu kämpfen, auch wenn Überbelag in Wien immer noch ein Thema ist. Freilich kommt es, wie so oft, auf die Definition an. Für die Statistik Austria beginnt der Überbelag bei zwei Personen auf bis zu 35 m² bzw. drei Personen auf bis zu 60 m² (und vier auf 70 m², fünf auf 90 m²). Nach dieser Definition sind in Wien aktuell nicht weniger als 73.900 Wohnungen überbelegt; das sind 8,5 Prozent des Bestands bzw. etwa jede zwölfte Wohneinheit. Wien ist damit im Bundesländervergleich einsame Spitze; in Salzburg, dem nächstplatzierten Bundesland, gibt es nur in 3,9 Prozent aller Wohneinheiten Überbelag. Dieser Wert ist gleichzeitig auch der Bundesschnitt.

Am relativ höchsten ist der Anteil bei den Gemeindewohnungen mit (österreichweit) 36.900 bzw. 13,3 Prozent. Da sich vier von fünf österreichischen Gemeindewohnungen in Wien befinden, ist es klar, dass dieser Überbelag hauptsächlich in der Bundeshauptstadt stattfindet. Gleichzeitig wisse "niemand wirklich, wie viele leerstehende Wohnungen es in Wien aktuell gibt", kritisierte Peter Moser, Stadtforscher im Ruhestand, auf der AK-Tagung. "Seit mehr als 20 Jahren gab es keine Erhebung mehr." Man ist auf Schätzungen angewiesen, die einmal höher, einmal niedriger ausfallen.

Tatsache ist, dass nicht alles, was in den vergangenen Jahren in Wien gebaut wurde, auch tatsächlich bewohnt wird. Von durchaus nennenswerten Leerständen selbst bei neu gebauten Anlegerwohnungen spricht etwa Michael Pisecky, Obmann der Wiener Fachgruppe der Immobilientreuhänder, im Standard-Gespräch (siehe Seite 10). Diese Leerstände werden mitunter auch freiwillig in Kauf genommen. Wenn es gelingt, diese Wohnungen für den Markt zu mobilisieren, kann ein (kleiner) Teil des anhaltend starken Zuzugs in die Bundeshauptstadt hier unterkommen.

Gewerbeflächenüberbauung

Der größere Teil ist aber auf neue Wohneinheiten angewiesen, die entweder in Form von Nachverdichtungsprojekten im innerstädtischen Bereich oder in den großen Stadterweiterungsprojekten an den ehemaligen Bahnhofsarealen oder in der Seestadt Aspern entstehen. Die Problematik dabei: Einerseits sind die Reserven in Form bisher ungenutzter Bahnareale enden wollend. Andererseits baute sich schon in den letzten Jahren ein Fehlbestand auf, der so nicht leicht wieder abzubauen sein wird. 8000 bis 9000 neue Wohnungen pro Jahr brauche Wien laut Raumplaner Schremmer, um mit der Haushaltsentwicklung Schritt zu halten. "Noch besser wären bis zu 11.000 jährlich." Maximal 8000 Wohnungen pro Jahr wurden zuletzt errichtet.

Ein "veritables Problem" dabei sei, so Schremmer, die nötigen Grundstücke für den geförderten Wohnbau zu bekommen. Denn nur dieser könne die nötigen leistbaren Wohnungen schaffen. Allerdings steigen auch dort die beim Einzug zu bezahlenden Eigenmittelanteile, immer mehr Interessenten brauchen deshalb Kredite.

Als Ausweg aus diesem Dilemma wird bereits an Alternativen gearbeitet: Auf Initiative des Grünen-Gemeinderats Christoph Chorherr errichtet der Bauträger WBV-GPA auf dem Dach eines neuen Bauteils des Einkaufszentrums Auhofcenter 71 Mietwohnungen. Die Gleichenfeier fand vor wenigen Tagen statt. Vertreter der Bauwirtschaft wie Pisecky fordern, dass Nachverdichtung generell erleichtert wird und konkret beispielsweise in die Flächenwidmung eingegriffen wird, um Häuser leichter um Regelgeschoße aufstocken zu können, anstatt nur Dachgeschoße auszubauen. Dass es da oft zu Anrainerprotesten kommt, ist aber ebenfalls Realität im Wien des Jahres 2014. (Martin Putschögl, DER STANDARD, 8.11.2014)