Wo waren Sie am 9. November 1989? Das ist die Nine-Eleven-Frage, die Dallas-Kennedy-Frage, die Sputnik-Frage. Ich arbeitete damals als Frankreich-Korrespondent der Zeit in Paris. An jenem Abend war ich eingeladen vom Magazin L'Express, die 2000. Ausgabe zu feiern mit mindestens ebenso vielen hohen Gästen. Die halbe Regierung hatte sich angekündigt, der Präsident sollte vorbeischauen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution von 1789 traf sich le tout Paris 1989 in der funkelnagelneuen Opéra de la Bastille. Welch' ein Symbol!

Und dann am späten Abend das Flur-Gerücht: Die Mauer ist offen. "Die haben ja einen Schwips, oder mehr", war mein erster Kommentar. Lauter ungläubige Gesichter. Es gab damals ja keine Handys, keine E-Mail. Auch ich wollte es nicht glauben - und glaubte es erst am kommenden Morgen meinem Radiowecker.

Was ich damals erlebte und was viele Zeitzeugen damals durchaus auch genau so empfanden: Es ging nicht allein um die deutsche Frage, es ging um die künftige Gestalt und die Gestaltung Europas. Und mit Europa war mit einem Male nicht mehr nur das freie Europa des Westens gemeint, sondern das ganze Europa, also auch das sich befreiende Europa, bis hinter die damalige Westgrenze des sowjetischen Imperiums.

Leider ist diese europäische Dimension in vielen Erinnerungsbeiträgen deutscher Medien zum 25. Jahrestag doch arg weit in den Hintergrund getreten. Aber heute gilt, was auch damals galt, wenngleich in anderer Form, unter anderen Umständen: Die deutsche Frage, das war und das ist die europäische Frage. Was damals entschieden wurde, bestimmt heute europäische Politik ebenso wirkungsmächtig wie das, was damals nicht entschieden wurde.

Wer hatte damals Angst vor dem schwarzen Mann der deutschen Einheit? Frankreichs Präsident François Mitterrand? Dieser erklärte bereits im Oktober im Interview: "Ich weiß nicht, was daraus wird. Aber es liegt in der Logik der Geschichte sich vorzustellen, dass das deutsche Volk nicht ewig auf diese Weise getrennt bleibt. Auf alle Fälle ist davon auszugehen, dass es dafür einer demokratischen Abstimmung und der Zustimmung aller Kontrollnationen bedarf."

Zentraler Begriff war für ihn: die Logik der Geschichte. Und nicht etwa: Wunsch und Wille der Franzosen, 1789 gleich 1989. Zweiter deutlicher Hinweis, ja Bedingung: Nur gemeinsam mit den vier Alliierten von 1945 wird es eine deutsche Einheit geben. Mitterrand beschwichtigte: "Noch ist es nicht so weit." Das sagte er Ende Oktober!

Nein, kein cauchemar allemand geisterte damals durch den Elysée-Palast. Aber eine große und berechtigte Sorge um die Stabilität in ganz Europa und um die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft (EG) - die, wie Mitterrand ständig wiederholte, "die Zukunft Frankreichs ist". Drei Gefahrenszenarien trieben ihn jener Zeit um: Ein Sturz Gorbatschows, gefolgt vom Einzug eines Generals im Kreml. Ein deutscher Alleingang. Und drittens ein allgemeiner Rückfall in Nationalismus und Chauvinismus.

Im zweiten Halbjahr 1989 hatte Frankreich die Ratspräsidentschaft der EG inne. Als Ratspräsident wollte Mitterrand den Deutschen unbedingt ihr Ja zur Regierungskonferenz mit Datum abringen. Das sollte der Startschuss zur Währungsunion werden. Mitterrand erklärte im September Premierministerin Thatcher: Wir machen das notfalls ohne dich. Dieser Streit um Konferenz und Datum war vor dem 9. November der große Konflikt zwischen Bonn und Paris. Und nach dem 9. 11. dann erst recht.

Bundeskanzler Helmut Kohl wollte damals auch die politische Einigung der EG, nutzte diese Forderung aber zugleich, um den Start der Regierungskonferenz aufzuschieben. Mitterrands Verdacht: Dieser Kanzler hat Hintergedanken, er will womöglich mit Thatcher das Projekt Währungsunion kippen. Damit aber wäre die Einbindung Deutschlands aus Sicht Mitterrands gescheitert.

Frankreichs Präsident fühlte sich so unmittelbar vor dem 9. November düpiert, und das auch, weil er ja nach eigenem Gefühl seit 1983 - Stichwort: Nato-Nachrüstung, Angst vor einer Neutralitätspolitik der Bonner Republik - als Pro-Europäer in Vorlage getreten war, bis hin zum "Pourquoi pas?" zu einer Konsultation Deutschlands durch Frankreich bei möglichen Atomwaffeneinsätzen im Mittelstreckenbereich.

Frankreich stellte damals also nicht die Bedingung: Deutschland muss die D-Mark aufgeben, will es seine Einheit erlangen. Nein, umgekehrt, Kanzler Kohl musste erkennen, dass er die mögliche Einheit gefährdet, wenn er auf dem längst eingeschlagenen Weg zur Währungsunion bummelt oder gar vom vereinbarten Weg abweicht.

Mitterrand bezweifelte nicht die Legitimität deutscher Selbstbestimmung: Er wollte sie nur europäisch abgesichert. Gewiss, das Tempo zur Einheit war ihm zu hoch, weil er fürchtete, dass dies Michail Gorbatschow den Kopf kosten würde und "wir dann in Moskau einen General bekommen". Am Ende war es ein ehemaliger KGB-Oberst.

Bei der deutschen Frage hatte Mitterrand eine durchgehende Linie. Sein Wunsch damals: eine Konföderation für alle europäische Länder. In der Zeit nannte ich ihn darum einen "Metternich für Mitteleuropa". In der deutschen Öffentlichkeit wurde das meist missverstanden als ein Bremsen oder zumindest als autoritäre Kontrolle der sich anbahnenden Einheit. In Mitteleuropa wurde es wenig später dann gedeutet als Versuch Frankreichs, diese Länder aus EG und Nato draußen zu halten, für sie ein Antichambre vor der Tür des Brüsseler Clubs einzurichten.

Mit Mitterrands Ruhe war es vorbei, als Kohl den Start der Regierungskonferenz zurückzunehmen schien und ohne Absprache am 28. 11. seinen Zehn-Punkte-Plan mit staatlicher Einheit und Fahrplan vorlegte. Schlussfolgerung Mitterrands, die er Gorbatschow mitteilte: Kohl will die Einheit - und schiebt dafür die europäische Einigung und Friedensordnung auf die lange Bank. Darum drohte Mitterrand damals düster: Wenn Kohl die Einheit solo durchziehe, dann werde das wie 1913 eine Triple Entente gegen Deutschland provozieren.

Frankreichs Präsident stellte dem Kanzler im Dezember 1989 beim EG-Gipfel in Straßburg dann drei Bedingungen für ein Ja zur Einheit: Erstens der Start der Konferenz zur Währungsunion; zweitens die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die Kohl mit Blick auf die Vertriebenenlobby in seiner Partei in der Schwebe ließ; und einen Atomwaffenverzicht des geeinten Deutschlands.

Es kam zum Showdown beim Gipfel, weil der Kanzler nicht bereit war, sich bei der polnischen Westgrenze festzulegen. Schlüsseltext für die Franzosen dagegen war die KSZE-Schlussakte von Helsinki und deren Passus über die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa. Woran denken wir wohl heute bei diesem Stichwort?

Deutschland bekam schließlich den Segen der Gemeinschaft zur Einheit - eher über kurz als über lang. Am widerwilligsten gewiss von Margaret Thatcher. Ihr Argument: Diese EG wird Deutschland nicht einbinden können, sondern Deutschland wird diese EG dominieren - was aus heutiger Sicht so ganz falsch ja nicht ist.

Der Kanzler bekam jedoch nicht den Fahrschein in Richtung politische Union, die er zur Absicherung der Währungsunion für nötig hielt - die Folgen erleben wir in der Krise um den Euro heute.

Thatcher hat über ihre Verweigerungshaltung ihren Sturz herbeigeführt, weil Douglas Hurd und Schatzkanzler John Major hofften, mit dem Europäischen Währungssystem die Handelsbilanzdefizite und hohe Inflation des Pfund Sterling besser bändigen zu können. Britannien "mitten im Herzen Europas", rief Thatcher-Nachfolger Major als Devise aus: Seine Nachfolger Tony Blair und Gordon Brown redeten ähnlich. Thatchers "Enkel" David Cameron redet anders. Und wie die Briten das mit dem Herzen sehen, werden wir 2017 erfahren.

Was damals von Deutschen auf der Straße, von Staats- und Regierungschefs im Verhandlungssaal entschieden wurde, bestimmt europäische Politik bis heute. Das gilt nicht zuletzt für Russland, wo ein Putin die Politik eines Gorbatschow als "größte geopolitische Katastrophe des 20.Jahrhunderts" einstuft und als Negativ für seine katastrophale Machtpolitik im 21. Jahrhundert gebraucht. (Joachim Fritz-Vannahme, DER STANDARD, 8.11.2014)