Achtzehn Jahre nach dem blutigen Putsch von Augusto Pinochet und eineinhalb Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie stand Chile auf dem Kopf: Am 9. September 1991 um 9 Uhr abends wurde der 33 Jahre alte Christián Edwards, Erbe des größten Zeitungsimperiums Chiles und der konservativen Tageszeitung El Mercurio, entführt, als er gerade in sein Auto einsteigen wollte. Sein Vater, Agustín Edwards Eastman, war einer der vehementesten Gegner des sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende und hatte wesentlich zum Putsch Pinochets gegen die Linksregierung beigetragen.
Die Kidnapper von einer radikalen Guerillagruppe hielten Edwards fünf Monate in einer drei mal zwei Meter großen Kiste eingesperrt, ohne Fenster oder Frischluft, ohne dass er das Verlies jemals verlassen konnte. Für ihre Reportage über die Entführung erhielten die Journalisten Pedro Ramírez Pinto und Juan Cristóbal Peña mehrere Preise.
Detailliert schildern sie das Leiden des Entführungsopfers und die Verhandlungen des Vaters, der beinahe um jeden Dollar Lösegeld feilscht. Wie in einem Thriller steigt die Spannung ständig, das Leben von Christián steht auf der Kippe - bis die Kidnapper schließlich einen großen Fehler begehen und das Opfer befreit wird.
Oscar Martínez aus El Salvador arbeitet in seiner Heimat bei der Online-Zeitung El Faro, "Der Leuchtturm", wo er für Hintergrundberichte zu den Themen Migration, Gewalt und organisierte Kriminalität zuständig ist. Der kleine mittelamerikanische Staat von der Größe Niederösterreichs bietet dafür ein unerschöpfliches Reservoir. Die Kämpfe zwischen einander bekriegenden Jugendbanden, den Maras, fordern monatlich an die 300 Todesopfer, der Drogenhandel zerfrisst die Gesellschaft, und tausende Menschen flüchten jährlich vor Armut und Gewalt in den verheißungsvollen Norden, die USA. Oder versuchen zumindest die Flucht - und verlieren dabei ihr Geld und ihr Leben.
In Mittelamerika werden die Schlepper Koyoten genannt, nach jenem Tier, dem in der indianischen Mythologie die Rolle des listigen Betrügers zugeschrieben wird. Señor Coyote, der Herr Koyote, ist der Chef eines Schleppernetzwerks in El Salvador. Er koordiniert die gefährliche Reise der Flüchtlinge durch Guatemala und Mexiko bis zu ihrer Ankunft im vermeintlichen Paradies, wofür er 7000 Dollar pro Kopf kassiert. 1500 bleiben ihm selbst, der Rest geht für die anderen Koyoten drauf, an die die Migranten weitergereicht werden, und für Schutzzahlungen an Verbrechersyndikate wie die berüchtigten "Zetas". Señor Coyote hält sich für einen ehrlichen, seriösen Schlepper, doch leider gebe es auch viele Kriminelle in seinem Metier, bedauert er. Der gute Chefschlepper schildert dem Journalisten Martínez minutiös den Leidensweg, dem die Flüchtlinge seitens der betrügerischen Koyoten ausgesetzt sind.
Alle hier versammelten Reportagen haben eine Gemeinsamkeit: Die Autoren und Autorinnen nehmen sich selbst völlig zurück, beschränken sich auf die Rolle des Erzählers, des Beobachters. Ihre Darstellungsweise konzentriert sich auf das Tatsächliche und Wesentliche, ohne sensationellen Aufputz, ohne Nervenkitzel. Die in Lateinamerika verbreitete Testimonio-Literatur stand Pate bei diesem dokumentarischen, ästhetisch und sprachlich anspruchsvollen Journalismus, der im deutschen Sprachraum eher selten anzutreffen ist, wie z. B. bei Erich Hackl und Karl-Markus Gauß.
Einen wesentlichen Impuls für diesen unprätentiösen, dem Realen verhafteten Journalismus lieferte der Großmeister der kolumbianischen Literatur, Gabriel García Márquez, der nicht nur als Reporter seine Karriere startete, sondern sich auch sein ganzes Leben lang dem Journalismus verpflichtet fühlte. Die vom Nobelpreisträger gegründete "Stiftung für den neuen iberoamerikanischen Journalismus" mit Sitz in der kolumbianischen Hafenstadt Cartagena ist so etwas wie eine Kaderschmiede des Qualitätsjournalismus im spanischen Sprachraum.
Die Tatsache, dass einer der besten und verdienstvollsten Vertreter des Printjournalismus in Österreich diesen Sammelband herausgab, ist eine Garantie für seine Qualität. Und der Titel des Buches - Achtung! Aufmerksamkeit! - weist mit Recht darauf hin, dass wir hier auf Texte in der Nachfolge von Ryszard Kapuscinski und Tom Wolfe stoßen. Von der literarisch-journalistischen Qualität der Reportagen einmal abgesehen ist Atención! auch ein Buch, das einen guten Einblick in die lateinamerikanische Kultur und Realität vermittelt. Und somit eine gute Begleitung oder Vorbereitung für eine Reise in diese Hemisphäre darstellt.(Werner Hörtner, DER STANDARD, 8.11.2014)