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Feiernde Berliner am 9. November 1989. Der Mauerfall ist nur eines vieler geschichtsträchtiger Ereignisse, die man dem Zufall zuschreiben muss.

Foto: apa/str

Neben allen berührenden Bildern und ergreifenden Erzählungen sticht bei den Feiern zum 25-jährigen Jahrestag des Berliner Mauerfalls etwas hervor: Anders als in früheren Jahren wird in der Berichterstattung weniger das Heldentum der Ostdeutschen oder die wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die die DDR und den Kommunismus in die Knie zwangen, betont, als die vielen Zufälligkeiten, die zur Öffnung der Mauer am 9. November 1989 führten.

Es beginnt damit, dass der Wiener Fotograf Bernhard Holzer den schon längst durchgeführten Abriss des Eisernen Vorhangs zwischen Ungarn und Österreich im Mai 1989 noch einmal von den Außenministern Alois Mock und Gyula Horn nachstellen ließ – und damit die Chance zur Flucht in der DDR erst bekannt machte.

Dann kam die absurde Entscheidung der SED-Führung im Oktober 1989, den Zug mit den Prager Botschaftsflüchtlingen aus formalrechtlichen Gründen über Dresden fahren zu lassen – und so den eigenen Bürgern demonstrierte, dass eine Ausreise möglich ist.

Die Patzer der SED

Und wie die Recherchen deutscher Journalisten und Historiker oder der Yale-Professorin Mary Sarotte ("The Collapse: The Accidental Opening of the Berlin Wall") aufgezeigt haben, war der 9. November selbst eine Komödie der Irrungen, begonnen mit einer unklar formulierten Reiseverordnung, einer verpatzten Pressekonferenz durch Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, und schließlich der dramatischen Ereignisse am Grenzübergang Bornholmer Straße, wo der treue Stasi-Offizier Helmut Jäger Geschichte machte, weil er sich von seinen eigenen Vorgesetzten in Stich gelassen fühlte.

Das Entscheidende an dieser neuen Geschichtsschreibung, wie sie auch Spiegel Online nun einer multi-medialen Collage pflegt, ist die Botschaft: Es hätte auch anders kommen können. Nichts an den Ereignissen von 1989 war unvermeidlich.

Große Ursachen und Gesetzmäßigkeiten

Das ist geschichtsphilosophisches Neuland. Wer sich mit dem Lauf der Dinge beschäftigt, sucht meist große Ursachen, Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten – ob Weltherrschaft, Fortschritt oder vorgezeichneter Untergang.

Das 19. Jahrhundert war vom Hegelschen Geschichtsverständnis geprägt, das dank Karl Marx bis weit ins 20. Jahrhundert überlebte. Bis vor wenigen Jahren standen viele Intellektuelle im Bann des Marxismus, das den Kollaps des Kapitalismus als unausweichlich sieht. 1989 kam Francis Fukuyama mit einer Gegenthese vom "Ende der Geschichte" durch den Siegeszug von Demokratie und freier Marktwirtschaft.

Dazu kommen große geopolitische Theorien, die etwa den Wiederaufstieg Chinas als ewige Großmacht postulieren, was wiederum zwingend zu einer Destabilisierung der Weltpolitik führen muss.

Siegt die EU - oder bricht der Euro auseinander?

In Europa ist heute die eine Hälfte überzeugt, dass die Europäische Union, die Immanuel Kants Konzept des "ewigen Friedens" verwirklicht, nicht nur Bestand haben muss, sondern weiter wachsen wird – und die andere, dass die EU zum Scheitern verurteilt ist, oder zumindest der Euro.

Wer aber Geschichte als Abfolge von Zufälligkeiten sieht, der muss zu einem anderen Schluss kommen: Wir wissen nicht, was passieren wird. Natürlich gibt es fundamentale Entwicklungen und Kräfte, die gewisse Ereignisse wahrscheinlich machen. Aber es kann genauso gut anders kommen.

Hätte Princip danebengeschossen

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war nicht überraschend, die Kriegsgefahr lag 1914 damals in der Luft. Aber er war nicht zwingend. Hätte Gavrilo Princip danebengeschossen, wäre der Krieg damals vermeidbar gewesen. Und ein Jahr später hätte vielleicht auch die großpolitische Lage nicht mehr so stark in den sinnlosen Krieg geführt.

Der Kollaps des Kommunismus war 1989 erstmals denkbar. Aber ohne unbeabsichtigte Öffnung der Mauer durch die Unfähigkeit der SED hätte die DDR wahrscheinlich noch ein paar Monate überlebt. Und die Gegenbewegung gegen Michail Gorbatschows Perestroika in Russland, die im Augustputsch 1991 ihren Ausdruck fand, hätte dann vielleicht eher Chancen auf Erfolg gehabt.

Auch Lehman war ein Zufall

Zufälligkeiten prägen auch unsere jetzige Zeit. Der Kollaps von Lehman Brothers im September 2008, der aus einer Subprime-Krise die Weltfinanzkrise machte, war nicht zwingend, sondern das Resultat einer ähnlichen Abfolge von Zufälligkeiten und Fehlentscheidungen wie die Maueröffnung. Und ohne Lehman-Pleite wäre vieles anders gekommen. Nicht unbedingt besser, denn die Finanzwelt war damals ein wackeliges Kartenhaus, aber anders.

Der Ausbruch des Arabischen Frühlings Anfang 2011 hätte noch Jahre auf sich warten lassen, wenn sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 nicht selbst verbrannt hätte.

Dann gäbe es keinen syrischen Bürgerkrieg und keine IS. Diese wiederum ist die Folge der US-Invasion in den Irak, die erst durch den zufälligen Wahlsieg von George W. Bush im Jahr 2000 und den so unwahrscheinlichen Erfolg der Terroranschläge des 11. September 2001 möglich wurde.

Und Schüssel wäre noch Kanzler....

Überhaupt sind Wahlen eines der großen Zufallsgeneratoren der Politik, weil sie aus oft nicht zwingenden Gründen Machtverhältnisse ändern. Ich denke mir oft, dass die österreichische Politik anders aussehen würde, wenn bei den Nationalratswahlen 2006 die ÖVP wie prognostiziert doch vor der SPÖ gelegen wäre.

Wolfgang Schüssel wäre noch lange Kanzler geblieben, Alfred Gusenbauer sein Vizekanzler und ein recht zufriedener Außenminister, gegen den die Partei nicht revoltiert hätte. Weniger als 50.000 Stimmen entschieden damals über den weiteren Verlauf der Innenpolitik.

Geschichte wird vor allem von Menschen gemacht. Und hier sind es oft die unglaublichsten Patzer, die Ereignisse erzwingen, und nur selten die großen Pläne und Visionen. Erfolgreich regieren, das ist eine allgemeine Lehre aus dem Mauerfall, besteht vor allem darin, grobe Fehler zu vermeiden. (Eric Frey, derStandard.at, 9.11.2014)