Erich Kirchler

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DER STANDARD: Ein erstaunliches Phänomen: Quasi über Nacht werden an sich Leistungsfähige von Zweifeln an ihrer Leistungsfähigkeit überfallen. Was ist da passiert?

Kirchler: Was da passiert ist, lässt sich wohl am besten mit dem Wort "Selbstüberforderung" beschreiben. Wie ist das zu verstehen? Menschen haben Erwartungen und Vermutungen. Erwartungen bezüglich ihrer eigenen Leistung. Und Vermutungen bezüglich der Erwartungen, die andere an sie haben. Erfahrungstatsache ist nun: Besonders hochleistungsfähige Menschen mit einer Tendenz zum Perfektionismus zeichnen sich durch besonders hohe Ansprüche an ihre Leistungen aus. Gerade Perfektionisten streben Vollkommenheit an und damit Leistungen, die nicht mehr verbessert werden können, also "Totalleistungen".

DER STANDARD: Damit machen sie sich verrückt?

Kirchler: Plastisch ausgedrückt: ja! Auf jeden Fall aber bewegen sie sich mit dieser Forderung an sich selbst stets auf der Grenzlinie zur Gefahr, erhebliche Zweifel daran zu entwickeln, ob die erbrachten Leistungen auch ihrem selbstgesetzten Anspruch genügen. Auf die Spitze getrieben wird diese fehlfokussierte Leistungseinstellung noch durch die Meinung, Anerkennung und Zuneigung anderer nur über besonders hohe Leistungen erreichen zu können. Und aus dieser gedanklichen Konstellation heraus rutscht ein Mensch recht schnell über die Grenzlinie zur Angst, den vermuteten Erwartungen nicht zu entsprechen und dadurch nicht nur Kritik, sondern, schlimmer noch, Ablehnung zu ernten. Je höher die Ansprüche und je niedriger die persönliche Toleranz ist, vermeintlich unperfekt zu sein, desto höher ist die Anstrengung. Und mit ihr zwangsläufig die innere Anspannung und die Furcht vor dem vermeintlichen Versagen. Selbst bei enormem Einsatz und nachweislich beachtlicher Leistung.

DER STANDARD: Und desto unwahrscheinlicher wird das Erleben von Erfolgserlebnissen?

Kirchler: So ist es, und das ist der destabilisierende Knackpunkt der Sache. Anstatt sich über eine erbrachte Leistung zu freuen und Genugtuung über die persönliche Leistungsfähigkeit zu empfinden und dadurch ein solides Leistungsbewusstsein zu bekommen, tickt das unbehagliche Gefühl im Kopf, nicht gut genug gewesen zu sein. Diese Überdosierung von persönlichen Leistungserwartungen ist störend und schädigend. Die daraus entspringenden Selbstzweifel und die Angst vor dem - vermeintlichen! - Versagen können bis zur Lähmung belastend sein. Je mehr der Zeitpunkt der Leistungserbringung näherrückt, desto quälender werden die Zweifel und die Angst, nicht zu genügen. Und wie gesagt, ganz besonders davon betroffen sind hochleistungsfähige Perfektionisten. Interessant in diesem Zusammenhang ist das sogenannte Hochstaplersyndrom.

DER STANDARD: Pardon, das ist was?

Kirchler: Ein in diesem Kontext irritierender Begriff, keine Frage! 1978 wurde von den amerikanischen Psychologinnen Pauline Rose Clance und Suzanne Imes ein Phänomen beschrieben, das sie "impostor phenomenon" oder Hochstaplersyndrom nannten. Während es sich bei echten Hochstaplern um Menschen handelt, die sich mit falschen Angaben etwas erschwindeln, sind Menschen, die unter dem Hochstaplersyndrom leiden, das genaue Gegenteil von Schwindlern. Sie stellen tatsächlich etwas dar, sind hochqualifiziert. Aber aufgrund ihrer fatalen Leistungserwartung an sich selbst, aus ihrem irrigen Empfinden, etwas vorzugeben, was sie nicht sind, fürchten sie, als Hochstapler entlarvt zu werden. Und so fühlen sie sich der ihnen zuteilwerdenden Anerkennung nicht würdig, und das, obwohl sie Könner sind.

DER STANDARD: Diese Menschen genügen sich selbst also nie ...

Kirchler: Eigentlich schlimmer als das. Aus dieser Angst heraus ist diese Sorte Mensch unablässig auf Höchstleitungen aus, setzt sich bis zur Erschöpfung ein, um das ihnen zuteilgewordene Lob in ihren Augen auch wirklich zu verdienen, und kommt so trotz bester Aufgabenerfüllung mit Lob und Anerkennung nicht zu einer beruhigenden persönlichen Leistungsüberzeugung. Personen, die unter diesem Hochstaplersyndrom leiden, sind in der Regel hochgebildet, erfolgreich und finden sich in allen Berufsgruppen. Sie sind sympathisch, eher zurückhaltend und lieber in der zweiten als in der ersten Reihe. Sie scheuen vor schwierigen Aufgaben nicht zurück und legen sich ins Zeug, um gute Ergebnisse zu erzielen. Dieses Phänomen tritt oft bei der Übernahme neuer Aufgaben auf. Viele Menschen leiden vorübergehend unter dem Hochstaplersyndrom, aber es schwächt sich mit der Gewöhnung an die neue Aufgabe wieder ab. Erfolgreiche Frauen leiden öfter darunter als Männer. Es kommt vor, dass gerade diese hochleistungsfähigen Frauen ihre Karriere aufgeben, um aus der enormen emotionalen Spannung zu entkommen.

DER STANDARD: Wovon hängt nun die Überzeugung von der eigenen Selbstwirksamkeit ab?

Kirchler: Eine maßgebliche Rolle spielen dabei gemachte Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit, aber auch im späteren Erwachsenenalter. Wesentliche Weichen werden aber schon sehr früh gestellt. Und hier sind es vor allem Lob und Tadel nach erbrachten Leistungen und ganz besonders auch die Reaktionen auf gemachte Fehler, die Einfluss auf sowohl die Selbstwirksamkeitserwartung als auch auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugung haben. Wer immer nur zu hören bekommt, um wie viel besser andere sind und dass es wohl an der Zeit wäre, sich im Blick auf "die anderen" noch mehr Mühe zu geben, ist ganz erheblich gefährdet, bezugnehmend auf die eigene Leistung und einen realistischen Umgang mit Leistung fehlprogrammiert zu werden. Sprich er wird nie etwas für angemessen, ausreichend und gelungen halten. Wenn ständige Unzufriedenheit mit sich selbst oder der eigenen Leistung auch eine Mentalitätssache sein kann, so zeigt die Erfahrung, in ihrer extremeren Form ist sie erlernt und auf diesem Wege immer mehr verfestigt worden.

DER STANDARD: Wie verhalten sich Menschen mit solider Selbstwirksamkeitsüberzeugung im beruflichen Alltag?

Kirchler: Sie glauben an sich und an ihre Leistungsfähigkeit. Sie führen ihren Erfolg nicht auf das Glück oder den Zufall zurück, sondern auf ihren Einsatz. Sie sind überzeugt, das Geschehen lenken zu können und die Kontrolle darüber zu haben. Sie arbeiten auf ein Ergebnis hin, ohne das Erreichte immer wieder infrage zu stellen. Sie wissen, mit einer erbrachten Leistung stellen sich auch neue Erkenntnisse ein, lassen sich davon aber nicht verunsichern und zu permanent neuen Bearbeitungsschleifen an einer Aufgabe verführen. Sie finden ein Ende und investieren das neue Wissen in neue Aufgaben. Kurz: Sie sind überzeugt, aufgrund des eigenen Könnens etwas bewirken zu können, gewünschte oder geforderte Arbeiten erfolgreich ausführen und die damit verbundenen Ziele erreichen zu können. Sie sind motiviert, haben eine hohe Ausdauer bei der Aufgabenbewältigung und sind weniger ängstlich oder depressiv verstimmt und damit erfolgreicher im Job. Ein starker Glaube an die eigenen Fähigkeiten führt zu hohen Ansprüchen und zur Wahl anspruchsvoller Aufgaben, die erfolgreich bewältigt wieder zu intensiverer Selbstwirksamkeitsüberzeugung führen.

DER STANDARD: Mit Blick auf diese Zusammenhänge: Ihr Rat an die Vorgesetzten?

Kirchler: Vorgesetzte tragen die Leistungsverantwortung. Ein Aspekt davon ist, dass auch im Blick auf die Leistung am Arbeitsplatz die Aufwand-Ertrags-Überlegung gilt. Der nicht mehr angemessene Aufwand, der aufgrund einer fehlprogrammierten Leistungseinstellung in eine Aufgabe gesteckt wird, beeinträchtigt zwangsläufig die Erledigung anderer Aufgaben. Es kommt also zu einem Missverhältnis von Aufwand und Ertrag. Wer immer wieder unzufrieden mit der eigenen Leistung ist und noch mal und noch mal daran herumdoktert, arbeitet unwirtschaftlich. Vorgesetzte, die entsprechende Tendenzen registrieren, müssen dem gegensteuern. Aus betriebswirtschaftlicher wie menschlicher Sicht. Und beides lässt sich koppeln - etwa durch die Vermittlung von Gefühlen, in die eigenen Fähigkeiten vertrauen zu können, durch Kompetenz- und Wertschätzung; indem sie dabei helfen, möglichst konkrete Vorstellungen über das eigene Handeln und die Handlungsabläufe sowie deren Konsequenzen bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu entwickeln, und indem sie sie dabei unterstützen, ein kognitives Abbildsystem zu entwickeln, wo Ziele und Wege vorgestellt und als handlungsleitend hingestellt werden. Und indem sie die Herausforderungen mittelschwer bis schwer, aber schaffbar gestalten und dafür sorgen, dass sie auch so empfunden werden. Last, but not least indem sie auf die selbstwertdienlichen Denkmuster hinweisen. Zum Beispiel: Der Erfolg darf getrost dem eigenen Einsatz und Können zugeschrieben werden und nicht dem Glück oder dem Zufall. (DER STANDARD, 08./09.11.2014)