Die schwere Niederlage der Demokraten bei den US-Kongresswahlen ist in scheinbarem Widerspruch zu der Feststellung des britischen Historikers A. J. P. Taylor (1906- 1990) in seiner Geschichte Englands: "Es scheint, dass die Staatsmänner nichts richtig machen können, wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, und nichts Schlechtes, wenn es der Wirtschaft gutgeht."

Die Statistiken bestätigen nämlich eine bemerkenswerte wirtschaftliche Erholung der USA. Im Wahlkampf wies Präsident Barack Obama darauf hin, dass die Wirtschaft in den vergangenen 55 Monaten zehn Millionen Arbeitsplätze geschaffen habe, die längste ununterbrochene Wachstumsphase auf dem US-Arbeitsmarkt in der Geschichte. Das Arbeitsministerium hatte gemeldet, die Arbeitslosenquote sei zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 unter sechs Prozent gefallen. Das Bruttosozialprodukt wuchs seit 2007 um sieben Prozent, und in diesem Jahr dürfte es vier Prozent ausmachen.

Die Zahlen über den stärksten Aufschwung in den vergangenen sechs Jahren kamen zu spät, um noch den Demokraten helfen zu können. Die Masse der Wähler hat von der guten wirtschaftlichen Entwicklung noch nicht profitiert, und es gibt heftige Debatten darüber, warum auch unter einem linken Präsidenten das Wirtschaftswachstum fast ausschließlich den Superreichen zugutekam. Von 1986 bis 2012 wuchs das Realeinkommen der 160.000 reichsten Familien jährlich um 3,4 Prozent, das von 90 Prozent der Bevölkerung jedoch bloß um 0,7 Prozent.

Die Durchschnittsamerikaner hatten nicht das Gefühl, dass von der wirtschaftlichen Erholung viel bei ihnen ankommt. Viele der Obama-Wähler aus den Jahren 2008 und 2012 - Schwarze, Latinos, Frauen und Jungwähler - waren von den versprochenen, aber schlecht vorbereiteten oder ausgebliebenen Reformen (steuerliche Umverteilung, Versicherungsschutz, Minimallöhne) enttäuscht. Auch bei Einwanderung und Klimaschutz konnte Obama seit seiner Wiederwahl nicht viel umsetzen. Der erste Afroamerikaner im Weißen Haus wirkte nach seiner Wiederwahl in internationalen Krisensituationen oft als ein überforderter Zauderer. Die anfänglich weltweit bewunderte charismatische Ausstrahlung seiner Auftritte verflüchtigte sich immer mehr. Um dauerhaft zu sein, muss sich das Charisma - wie bei F. D. Roosevelt oder Bruno Kreisky - durch Erfolge bewähren.

Obamas Popularitätswerte waren vor den Wahlen so offensichtlich im Keller, dass die meisten demokratischen Bewerber um Sitze im Repräsentantenhaus oder im Senat ihn baten, nicht für sie bei Wählerversammlungen aufzutreten. Es stimmt zwar, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in 32 von 70 Jahren der jeweilige Präsident mit den beiden von der Opposition kontrollierten Häusern zur Koexistenz und Zusammenarbeit gezwungen wurde. Angesichts eines von autoritären und großrussischen Nationalisten geführten Russlands und eines ebenso autoritären, aber von wirtschaftlichen und militärischen Weltmachtambitionen beseelten Chinas bedeuten aber weitere zwei Jahre mit einem US-Präsidenten ohne Gestaltungskraft und Führungsstärke eine auch außenpolitisch nicht ungefährliche Periode mit vielen Fragezeichen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 11.11.2014)