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Die Entführung von 276 Mädchen aus einer Schule in Nigeria führte im April zu weltweiten Protesten. Im Bild: Studenten auf den Philippinen tragen Masken mit den Gesichtern der Entführten.

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Mausi Segun sprach mit Opfern von Boko Haram.

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Mehr als 2000 Zivilisten wurden im ersten Halbjahr von der Terrororganisation Boko Haram getötet. Die Gruppe, die vor allem im Norden Nigerias operiert, verübte in den vergangenen Monaten vermehrt Anschläge. Erst am Montag zündete ein Selbstmordattentäter eine Bombe in einem Schulhof, mindestens 48 Menschen starben. Die nigerianische Wissenschafterin Mausi Segun untersuchte zwischen Juni und August die Auswirkungen des Terrors. Der Bericht, den sie für Human Rights Watch (HRW) verfasste, zitiert Opfer, Überlebende und Betroffene.

STANDARD: In Ihrem Bericht werden Mädchen zitiert, die von Angreiferinnen in den Boko-Haram-Camps erzählen. Ein Mädchen wurde vergewaltigt, während die Frau des Kommandeurs den Höhleneingang versperrt hielt und zusah. Welche Rolle spielen Frauen bei Boko Haram?

Segun: Es gibt Fälle, in denen Frauen für Boko Haram arbeiten. Manchmal spielen sie dabei keine aktive Rolle, sondern rekrutieren neue Kämpfer. Um zu verstehen, warum diese Frauen mithelfen, muss man die kulturelle Umgebung der Frauen im Norden Nigerias verstehen. Sie dürfen oft keine eigenen Entscheidungen treffen. Deshalb halten sie bei Boko Haram an der Macht fest, die sie bekommen. Die erwähnte Frau des Kommandanten hat in einem anderen Fall Mädchen geholfen, vor den zwangsgeheirateten Ehemännern und aus dem Camp zu flüchten. Es gibt deshalb kein Schwarz-Weiß-Schema.

STANDARD: Oft sind die Mädchen, die in den Camps vergewaltigt wurden und flüchten können, einem großen Stigma ausgesetzt, sie werden geächtet. Wer sollte wie helfen, dass sich das ändert?

Segun: Viele Mädchen kommen in ihre Dörfer zurück, nachdem sie traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. Oft sind sie in ihren Heimatdörfern auch nicht sicher, weil die Gefahr einer erneuten Entführung groß ist. Ich denke, dass es die Verpflichtung der nigerianischen Regierung und der lokalen Behörden ist, diesen Mädchen zum einen die medizinische Versorgung zu geben, die sie benötigen. Zum anderen muss man sie auch bei ihren psychischen Problemen unterstützen. Oft wissen die Mädchen genau, wer sie vergewaltigt oder ihnen Gewalt angetan hat. Die Behörden müssen daraufhin aktiv werden.

STANDARD: Im April wurden 276 Mädchen aus einer Schule in Chibok entführt. Geflohene berichteten danach, dass die Schule - trotz Zusicherung der Regierung - zum Zeitpunkt der Entführung nicht bewacht war. Kann man das der Regierung vorwerfen?

Segun: An der Schule waren tatsächlich keine Wachen postiert, die Sicherheitsleute hätten in der Stadt sein müssen. Das ist ein schwerer Fehler der Regierung gewesen. Wir hören immer noch die Beschwerden, dass die Behörden auf Überfälle und Entführungen zu spät oder gar nicht reagieren. Außerdem geben immer wieder Dorfbewohner an, dass Soldaten flüchten, wenn Boko-Haram- Kämpfer im Anmarsch sind. Mit solchen Aktionen kommt die Regierung ihren Verpflichtungen nicht nach.

STANDARD: Im Februar 2015 wird in Nigeria ein neuer Präsident gewählt. Welche Auswirkungen wird der Terror auf die Wahlen haben?

Segun: Die Gewalt wird definitiv einen Einfluss auf die Wahlen im Nordosten des Landes haben. Fast eine Million Menschen sind innerhalb des Landes geflüchtet. Laut nigerianischem Wahlrecht müssen Wähler aber in ihrem Heimatwahlkreis ihre Stimme abgeben. Das können viele Geflohene nicht. Die Wahlhelfer, die die Utensilien in die Wahlkreise bringen, sind außerdem einem Risiko durch Anschläge ausgesetzt.

STANDARD: Es gibt Meinungen, wonach Boko Haram westliche Bildung für Mädchen deshalb so stark ablehnt, weil gebildete Frauen sich nicht auf Polygamie einlassen, wie das immer häufiger im Norden Nigerias passiert. Was sagen Sie dazu?

Segun: Boko Haram lehnt westliche Bildung für alle Menschen ab. Sie schlachten auch junge Männer ab. Das Hochzeitsthema ist dabei eher sekundär. Durch den Terror verbreiten sie Angst, um ihre Macht und ihre religiösen Vorstellungen zu verbreiten.

STANDARD: Wie war die Atmosphäre in den Dörfern, die Sie besucht haben?

Segun: Es gibt viele Menschen, die von der Gewalt durch Boko Haram betroffen sind. Die Familien geben ihr Bestes, um ihr Leben fortzuführen. Was mich so überrascht hat, war, dass die Menschen mehr darüber gesprochen haben, wie sie selbst innerhalb ihrer Möglichkeiten ihr Leben verbessern können, als darüber, wie die Regierung helfen muss. Das hat mir das Herz gebrochen. Wir haben auch mit vielen Menschen in Flüchtlingslagern gesprochen, die immer wieder umziehen müssen, weil Boko-Haram-Kämpfer auch dorthin kommen.

STANDARD: Bedeutet das, dass Boko-Haram-Kämpfer gezielt in Flüchtlingslager gehen?

Segun: Absolut. Viele Opfer der Terrorsekte haben berichtet, dass sie Kämpfer in den Lagern erkannt haben. Das verbreitet noch mehr Angst, vor allem wenn gezielt nach Geflohenen gefragt wird. (Bianca Blei, DER STANDARD, 12.11.2014)