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Rotaugen im Paarlauf: Forscher untersuchten die Feminisierung der Fischart, die in großen Teilen Europas häufig vorkommt.

Foto: Picturedesk / ANP Kina

Exeter/Wien - Man schreibt das Jahr 1960. In den USA kommt zum ersten Mal ein Medikament namens Enovid auf den Markt. Es ist die Geburtsstunde der "Pille" - des Verhütungsmittels, welches die Welt verändern wird. Das Produkt enthält künstliche Hormone und hemmt dadurch den Eisprung. Die menschliche Fruchtbarkeit wird bequem kontrollierbar.

Die meisten Antibabypillen bestehen überwiegend aus EE2, einem synthetischen Östrogen-Derivat. Millionen Frauen nehmen sie. Täglich. Nachdem der Wirkstoff jedoch seine Funktion erfüllt hat, wird er mit dem Urin ausgeschieden und über die Kanalisation abgeführt. In konventionellen Kläranlagen gelingt es allerdings nicht, EE2 effektiv aus dem Abwasser zu entfernen. Der Stoff gelangt in Flüsse, Seen und manchmal sogar ins Grundwasser. Auch dort wird er nur langsam abgebaut. In der Umwelt hat EE2 eine Halbwertszeit von etwa 14 Tagen. Und das hat bedenkliche Konsequenzen.

In europäischen und nordamerikanischen Gewässern tritt EE2 oft in Konzentrationen von einem Nanogramm pro Liter oder mehr auf. Leider entfalten die Moleküle auch in solchen minimalen Mengen ihre Wirkung. Bereits in den Neunzigern schlugen einige britische Forscher Alarm. Sie beobachteten eine seltsame Verweiblichung von männlichen Fischen, die stromabwärts von Klärwerken lebten. In deren Gonaden bildeten sich zunehmend Eizellen. Gleich mehrere Arten waren betroffen.

Inzwischen ist das Phänomen aus verschiedenen Regionen bekannt. "Es gibt enorm viele Stufen der Feminisierung", berichtet der Biologe Patrick Hamilton von der University of Exeter im Gespräch mit dem Standard. Manche Fischmännchen scheinen sogar eine komplette Geschlechtsumwandlung durchgemacht zu haben.

Fisch-Hermaphroditen

Genau nachweisen kann man solche Exemplare jedoch nicht, erklärt Hamilton, denn sie lassen sich nicht mehr von normalen Weibchen unterscheiden. Die Tiere verfügen nämlich nicht über Geschlechtschromosomen. "Wir haben somit keinen genetischen Test für Männlichkeit." Die Wissenschafter können lediglich feststellen, dass in einigen Fischbeständen ein deutlicher Weibchenüberschuss vorliegt.

In Bezug auf Geschlechterfragen herrscht bei Flossenträgern allerdings ein buntes Durcheinander. Einige Arten, wie zum Beispiel die als Delikatesse beliebte Goldbrasse (Sparus aurata), sind sogenannte protandrische Hermaphroditen - sie verbringen ihre jungen Jahre als Männchen und verwandeln sich im reiferen Alter in Fischdamen. Umweltfaktoren können ebenfalls prägend wirken. Bei erhöhten Wassertemperaturen wachsen ursprünglich weibliche Rotlachslarven (Oncorhynchus nerka) zu männlichen Tieren heran - eine bemerkenswerte Flexibilität.

Die fortschreitende Feminisierung ganzer Fischpopulationen jedoch gilt unter Experten als eine Art ökologische Zeitbombe. Mangels Männchen könnten die betroffenen Bestände schließlich zusammenbrechen. Doch ein derartiger Kollaps wurde bislang noch nirgendwo dokumentiert - obwohl die Belastung der Gewässer mit EE2 schon seit Jahrzehnten anhält. Abgesehen davon gelangen auch andere hormonell wirksame Stoffe in Seen und Flüsse, darunter die berüchtigten Nonylphenole, die in Textilfarbstoffen enthalten sind. Warum sind die Folgen nicht viel schwerer?

Hamilton geht dieser Frage zusammen mit einigen Kollegen aus Exeter und von der Brunel University nach. Das Team konzentriert sich dabei auf die Feminisierung von Rutilus rutilus, zu Deutsch Rotauge, eine in großen Teilen Europas häufig vorkommende Fischart. Um einem möglichen Bestandsschwund auf die Spur zu kommen, entnahmen die Forscher knapp 1800 Rotaugen aus 39 verschiedenen Bereichen in sechs englischen Flusssystemen und unterzogen deren Erbgut einer genetischen Analyse.

Der Clou dabei: Sollte die Fortpflanzung in einer oder mehreren dieser Populationen ernsthaft beeinträchtigt sein, müsste dort eine genetische Verarmung sichtbar werden. Denkbar wäre auch, dass immer wieder Fische aus weiter entfernten Flussabschnitten einwandern, doch ein derartiger Zuzug ließe sich bei genetischen Vergleichen ebenfalls aufzeichnen. Die untersuchten Gewässer weisen sehr unterschiedliche EE2-Belastungen auf. Die mittleren Konzentrationen variieren von nicht nachweisbaren Mengen bis 11,6 Nanogramm pro Liter.

Die Studie, deren Details im Fachjournal BMC Biology veröffentlicht wurden, zeigt ein überraschendes Ergebnis. Trotz der weit verbreiteten Verweiblichung männlicher Rotaugen gibt es praktisch keine Hinweise auf eine verringerte Reproduktion. Auch Zuwanderung spielt bei dieser Art anscheinend keine wesentliche Rolle - zumindest nicht in den beprobten englischen Flüssen, die vielfach durch Stauwehre unterbrochen sind. Die Wissenschafter stehen vor einem Rätsel. "Vielleicht braucht es gar nicht so viele Männchen, um eine Population aufrechtzuerhalten", meint Hamilton. Und viele nur teilweise feminisierte Männchen scheinen noch immer in der Lage zu sein, sich fortzupflanzen.

Vermutlich sind noch andere Faktoren im Spiel. Bei manchen Fischspezies kommt es mitunter zu einer starken reproduktiven Dominanz größerer, älterer Exemplare. Diese könnte bei hormonell beeinträchtigten Rotaugen womöglich ausgeglichen werden. Die Feminisierung ist ein fortschreitender Prozess, erklärt Hamilton. Wenn einige wenige dominante Männchen sich dadurch in Weibchen verwandeln, dann hätten die jüngeren Generationen bessere Chancen auf Nachwuchs. Das würde sowohl die genetische Vielfalt als auch den Reproduktionserfolg der gesamten Population stabilisieren.

Die britischen Experten haben noch weitere Punkte im Visier. Die Umweltkonzentrationen der künstlichen Hormone sind erheblichen periodischen Schwankungen unterworfen, vor allem in Abhängigkeit von Niederschlägen und den daraus resultierenden Abflussmengen in den Flüssen. Je mehr Regen, desto größer die Verdünnung. Dauer und Intensität, mit denen die Fische tatsächlich EE2 ausgesetzt sind, könnten deshalb eine entscheidende Rolle spielen, ebenso wie eine unterschiedliche, erblich bedingte Anfälligkeit. "Das schauen wir uns im Moment genauer an", sagt Hamilton.

Gift für Embryonen

Eine Entwarnung kann es in Sachen EE2 jedoch nicht geben. Der Stoff ist für Fischembryonen offenbar auch giftig. Schweizer Forscher haben die Wirkung des künstlichen Hormons auf die befruchteten Eier von Renkenarten der Gattung Coregonus getestet. "Bereits ab einem Nanogramm pro Liter gibt es Entwicklungsstörungen und eine erhöhte Mortalität", berichtet Claus Wedekind von der Universität Lausanne.

Allerdings gibt es auch hier deutliche individuelle Unterschiede. Die Nachkommen einiger Fische zeigen eine gewisse Toleranz gegenüber EE2. Diese ist genetisch bedingt, wie die Wissenschafter bei Erbgutanalysen feststellten, die sie in Evolutionary Applications (Online-Vorabveröffentlichung) publizierten.

Die Renken haben somit das evolutionäre Potenzial zur Anpassung an das Hormon in der Umwelt, meint Wedekind. Wie stark sich diese Fähigkeit allerdings zukünftig in natürlichen Populationen entfalten kann, bleibt vorerst noch offen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 12.11.2014)