Wien - Die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland und die Reaktion der russischen Gesellschaft, die dies zu 86 Prozent unterstützt habe, seien für sie einschneidend gewesen, sagt Ekaterina Degot: "Das war ein Schock, und mir wurde bewusst, dass ich mich in einem kulturellem Vakuum befinde."
Die Kuratorin, Kunstkritikerin und Kunsthistorikerin war im März eine der wenigen Persönlichkeiten aus dem Umfeld der zeitgenössischen Kunst in Russland, die das russische Vorgehen gegen die Ukraine öffentlich verurteilten. "Ich möchte euch alle um Verzeihung bitten, dass wir in Russland nicht entschieden genug vorgegangen sind und jenes Regime Putins, das euch heute bedroht, nicht zerstören konnten", hatte sie in einem offenen Brief an ukrainische Kollegen geschrieben.
Vergangene Woche wurde Degot in Wien, so die Jurybegründung, für ihre "überaus produktive interdisziplinäre Arbeit zu soziopolitischen und ästhetischen Fragen in Russland und Osteuropa" mit dem Igor Zabel Award for Culture and Theory ausgezeichnet. Der von der Erste-Stiftung mit 40.000 Euro dotierte Preis ist nach dem 2005 verstorbenen slowenischen Kurator und Kunsthistoriker Igor Zabel benannt und wird seit 2008 biennal an herausragende Kunsttheoretiker aus Ost- und Zentraleuropa vergeben.
Die international vernetzte Moskauerin, Jahrgang 1958, zählt zu den Schlüsselfiguren der russischen Kunstszene. Und die bekennende Linke hat nicht nur als Kuratorin mit Ausstellungen über sowjetische Unterwäsche oder Kunst im Spannungsfeld von Trotzkismus und Stalinismus nachhaltige Spuren hinterlassen. Auch ihre pointierten Kommentare haben Maßstäbe gesetzt.
Wenige Tage bevor Wladimir Putin im Dezember 1999 zum Interimspräsidenten ernannt wurde, hatte die damalige Kunstkritikerin der Tageszeitung Kommersant etwa von einer politischen Mitverantwortung für jene Künstler und Kulturschaffende geschrieben, die sich damals in die Wahlkampfmaschinen des Kreml hatten einspannen lassen. Dieser Kommentar gilt als eine der ers-ten kritischen Veröffentlichungen über den beginnenden Putinismus, der aus dem Blickwinkel der Kunstszene verfasst wurde.
Aber auch 15 Jahre später bleibt Degot eine äußerst wichtige wie kritische Stimme: "Mit der militärischen Aggression gegen die Ukraine, nationalistischer Hysterie und den dunkelsten Formen von Rassismus und Patriarchat wurden in diesem Jahr viele unserer materiellen wie immateriellen Investitionen in Russland entwertet", resümierte sie vergangene Woche in ihrer Wiener Preisrede und bemühte ein Bild Russlands als Land des ewigen Versagens.
Sie rechne, so erklärt Degot gegenüber dem Standard, mit einer langen Stagnation in ihrer Heimat, in der es freilich gewisse Nischen geben werde. Jedoch sei nach dem Verschwinden einer politischen Opposition nun auch die kulturelle Opposition nahezu tabuisiert: "Wir sind auf dem Weg zu einem realen Dissidententum."
Selbst möchte sie sich zwar einstweilen nicht als Dissidentin bezeichnen, Konsequenzen aus der aktuellen Situation hat sie jedoch gezogen: Degot leitet seit wenigen Monaten eine neue Institution in Köln namens Akademie der Künste der Welt. "Mich interessiert es, in einem globalen Kontext zu arbeiten, in dem auch russische Künstler Platz haben", sagt sie. Im aktuellen Russland sei es derzeit eher nicht möglich, die größeren Zusammenhänge im Auge zu behalten.
Die "Weite" der Seele
Was bildende Kunst betrifft, erwartet Degot trotz mancher kulturpolitischer Anzeichen in diese Richtung keinen Triumph einer nationalistisch kodierten und realistischen Malerei. Diese Kunst werde marginal bleiben, prognostiziert sie. Gleichzeitig sieht sie Schwächen einer formalistischen Kunst, die in unterschiedliche Richtungen gelesen werden könne.
In Russland sei die Gefahr sehr groß, dass diese Kunst im Geiste "russischer Werte" interpretiert würde, so Degot. Internationale zeitgenössische Kunst, befürchtet sie, könnte deshalb durchaus unter dem Patronat Putins instrumentalisiert werden: "Denn damit kann die 'Weite' der russischen Seele demonstriert werden." (Herwig G. Höller, DER STANDARD, 13.11.2014)