Werbeslogan der Serie "Anarchy": "Es herrscht Chaos, treten Sie ein in die Geschichte."

Foto: France 4

Paris, Herbst 2014. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich wieder verschärft; Konkurse häufen sich, die Regierung muss die größte Bank des Landes retten, und die Ratingagenturen stufen die Bonität Frankreichs weiter herab, was die Zinsen hoch- und Frankreich in den Bankrott treibt. Präsident François Hollande sieht nur noch einen Ausweg: Am Donnerstag, 30. Oktober 2014, gibt er in einer Ansprache den Ausstieg seines Landes aus dem Euro-Verbund bekannt. Frankreich kehrt zum Franc zurück.

Das ist der Ausgangspunkt von "Anarchy", einer - jedenfalls vorerst - fiktiven Serie des französischen TV-Senders France 4. Eine Besonderheit der achtteiligen, jeweils am Donnerstagabend ausgestrahlten Sendung besteht darin, dass das Publikum das Drehbuch zum Teil selber schreiben und die Geschichte entwickeln kann.

Nur die erste Episode, ausgestrahlt an ebenjenem 30. Oktober, wurde von professionellen Drehbuchschreibern entworfen. Fünf Charaktere bilden den Auftakt - Jules, Enzo, Nour, Jacques und Myriam. Ihr mehr oder weniger geordnetes Leben gerät durcheinander, als die französische Regierung parallel zum Euro-Ausstieg vorübergehend auch die Banken schließt. Kreditkarten und Scheck bleiben zwar erlaubt, doch die Geldautomaten verteilen jede Woche pro Person nur noch 40 Euro in bar, um Massenabhebungen (vorerst noch in Euro) zu verhindern. Außerdem sind nur noch zehn Grundnahrungsmittel zum freien Verkauf zugelassen.

Drastische Maßnahmen

Myriam (42), Bankangestellte und mit ihrer Familie in einem Vorort wohnhaft, war schon zuvor tablettensüchtig gewesen, muss nun aber auch mit dem Verlust ihres Jobs rechnen. Denn die Regierung der nationalen Einheit hat drastische Begleitmaßnahmen erlassen: Das Pensionsalter wird auf 70 Jahre erhöht, die Löhne werden eingefroren, und Kündigungen ohne Fristsetzung sind zulässig.

Jules, ein Pariser Grafiker aus dem trendigen Bastille-Viertel, macht sich zuerst keine großen Sorgen - er hofft sogar auf neue Liebesabenteuer, hat er doch gehört, dass Krisen die Leute zusammenschweißen. Wird er vielleicht auf Nour stoßen, eine Musikerin und Freizeitboxerin?

Am Schluss der ersten TV-Episode gab die "Anarchy-Leitung die Vorgabe aus, Nours Intimleben solle im zweiten Teil eine Wendung nehmen. Alles Weitere würden die Zuschauer bestimmen. Sie mussten ihre Vorschläge bis zum Tag darauf einreichen; danach hatte das Fernsehteam von "Anarchy" (80 Mitarbeiter, Gesamtbudget 1,2 Millionen Euro) bis zum Donnerstag (6. November) Zeit, das dystopische Szenario für die Zuseher umzusetzen.

Die Zuschauer können die Hauptpersonen auch eliminieren oder neue schaffen. Ein Vorschlag lautete zum Beispiel, die Figur des russischen Kosmonauten Juri Gagarin aufleben zu lassen; in Paris wohnhaft, hätte er sich gezwungen gesehen, im hohen Alter von 80 Jahren nochmals Taxidienst zu versehen, um zu überleben.

Immer mehr konzentriert sich die Geschichte auf eine Volkssuppe in einer Schlosskulisse - die von den Schlangestehenden fast gestürmt wird. Was die vier weiteren Ausgaben ab diesem Donnerstag bringen werden - das heißt, wie chaotisch die Lage in der Fiktion wird -, ist dem Publikum überlassen.

In Paris wird eifrig diskutiert, wie nahe "Anarchy" der Realität kommen könnte. Front-National-Chefin Marine Le Pen, deren Chancen bei der Präsidentschaftswahl 2017 derzeit steigen, plädiert für den Euro-Ausstieg. Gemäß dem "Anarchy"-Verantwortlichen Boris Razon geht die Serie aber nicht davon aus. Politisch sei das Projekt nur "im weiten Sinn wegen des Interesses an der öffentlichen Sache". Und wegen der Frage, ob der Alte Kontinent am Ende wirklich auf die Apokalypse zusteuert. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 13.11.2014)