Im Norden Syriens kämpfen Kurden, Araber, Assyrer und Armenier gemeinsam ums Überleben. Ihr Feind ist die Terrormiliz "Islamischer Staat". Ein STANDARD-Lokalaugenschein in der Region, die "Rojava" genannt wird.

Kartendaten: Natural Earth, Konfliktgebiete: @deSyracuse, NYTimes

Grenzübertritt Faysh Khabur

Am Rückspiegel unseres Wagens baumelt ein Bild von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die hier in Rojava, dem syrischen Teil Kurdistans, allgegenwärtig erscheint, in der westlichen Welt aber auf der Terrorliste steht. Auf der anderen Seite von Öcalans Abbild ist das Foto eines jungen Mannes eingeschweißt. "Das ist mein Cousin Ferhat", sagt Hamed aus Derik, unser Fahrer.

Video: Fahrer Hamed über seinen Cousin.
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Ferhat war 25 Jahre alt, als er ums Leben kam, das ist drei Wochen her. Ein mutiger Mann sei er gewesen, sagt Hamed über seinen Cousin, er habe viele IS-Kämpfer getötet. Hamed nimmt das Bild in die Hand, schaut es lange an. Ferhat hat auch einen Zwillingsbruder, erzählt er, der ist noch im Kampf. Es scheint fast, als ob Hamed auch von diesem Cousin schon Abschied genommen hat. Sieben nahe Verwandte hat er in der Auseinandersetzung mit den Truppen des "Islamischen Staats" bereits verloren. Und das Kämpfen geht weiter. Die Da'sh, wie die Terrormiliz auf Arabisch hier abfällig genannt wird, ist als Bedrohung allgegenwärtig.

Kämpferinnen gegen die IS: Zwischen 40.000 und 50.000 Mitglieder zählt die YPG in Syrien, ein Drittel davon sind Frauen.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Kaserne Til Kocer

"Wir töten und töten und töten", sagt Adar, eine Kommandantin der Volksverteidigungseinheiten YPG, "aber es kommen immer neue nach." Adar ist Kommandantin in Til Kocer, ehemals eine Hochburg der IS. Die Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zum Irak und ist weitgehend zerstört. Auf der anderen Seite des Grenzzauns haben die Peschmerga die Kontrolle übernommen.

"Wahr ist, dass sich die IS-Krieger vor den Frauen fürchten."
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Adar ist 32 Jahre alt, eine kleine, zierliche Frau. In den drei Jahren, die sie bei den Streitkräften ist, hat sie mehr Erfahrung gesammelt, als ihr lieb ist. Sie war daran beteiligt, den Korridor zur Rettung der im Sindschar-Gebirge eingeschlossenen Jesiden freizukämpfen, sie gilt als Heldin.

Die anderen Frauen behandeln sie mit Respekt, schauen zu ihr auf. Adar spricht mit fester, klarer Stimme, aber sie wirkt abwesend. "Kein Tag, an dem wir nicht Verletzte haben und den Tod von Freunden beklagen müssen", sagt sie. "Wir kämpfen an vielen Fronten." Die restlichen Jesiden, die immer noch in den Bergen eingeschlossen sind, zu befreien, ist eine davon. In der Kaserne herrscht geschäftiges Treiben, die jungen Frauen, die hier untergebracht sind, wirken fröhlich. Sie sind stolz und motiviert. Adar wirkt traurig.

Dass Frauen gezielt gegen die IS eingesetzt würden, um diese zu demütigen, sei nur ein Gerücht, sagt Adar. Das Gerücht besagt, dass die Gotteskrieger nicht ins Paradies kämen, wenn sie von einer Frau getötet würden. "Wahr ist, dass sich die IS-Krieger vor den Frauen fürchten, weil sie sehr tapfer sind und gut treffen. Sie sind gute Soldatinnen." Adar steht vor einer Gruppe von ihnen, ein Teil von ihnen ist noch in Ausbildung.

Es sind junge Frauen, sie wirken fröhlich und aufgeregt. Sie erwarten sich ein neues Leben. Und es ist ein neues Leben. Viele von ihnen sind den patriarchalischen Strukturen ihrer Familien entflohen, sie haben sich so einer drohenden Zwangsverheiratung mit einem Mann, den sie sich nicht ausgesucht haben, entzogen. Wenn der Krieg noch lange dauert, werden viele von ihnen nicht überleben.

In einem Lager nahe der Türkei werden die Rekrutinnen ausgebildet.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Ausbildungslager im Norden

In einem Lager in Sichtweite der türkischen Grenze im Norden ist Hevidar Leylan für die Ausbildung von frischen Rekrutinnen verantwortlich. Sie sucht junge Frauen aus, die für Spezialeinsätze geeignet sind.

Hevidar ist 31 Jahre alt. Auf die Frage, ob sie selbst auch schon an der Front war, sagt sie trotzig: "Ich habe bei vielen Gefechten mitgemacht und etliche Verletzungen erlitten." Jeweils zwei Monate hat sie Zeit, um aus einer jungen Frau, sie sollte nicht jünger als 18 sein, eine Soldatin zu machen.

Video: Hevidar Leylan, Ausbildnerin (31), über die Motivation im Widerstand.
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Dann geht es an die Front, "aber nicht gleich in die erste Reihe", sagt Hevidar. Ob der Krieg das richtige Leben für diese Frauen ist? "Weder für Frauen noch für Männer", antwortet die Kommandantin, "aber wir haben uns das nicht ausgesucht. Wir befinden uns im Kriegszustand, wir müssen uns verteidigen, und das tun wir gleichberechtigt." Ob es sie nicht traurig macht, dass einige dieser Mädchen bald nicht mehr leben werden? "Natürlich tut das weh. Es sind schon einige Freundinnen neben mir gefallen." Und dann kommt es wie aus dem Lehrbuch: "Wir halten die gefallenen Freundinnen immer in Erinnerung. Das gibt uns die Kraft und die Motivation weiterzumachen."

"Angst habe ich keine", sagt Can Fida. "Wir haben die Angst überwunden." Die junge Frau in Uniform und mit der Kalaschnikow um die Schulter ist gerade 18 Jahre alt. In ihrer Familie habe sie bereits viele Gefallene, sie fürchte sich nicht vor dem Tod. Ihr größter Wunsch sei es, Rojava zu befreien, "damit die Völker hier in Frieden miteinander leben können". Das wirkt eingelernt.

Video: "Ich habe keine Angst vor dem Tod": Kurdische Kämpferinnen über ihren Einsatz gegen die IS.
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Die jungen Frauen werden nicht nur an der Waffe ausgebildet, sie erhalten auch eine theoretische Schulung, politische Bildung. Can Fida blickt ernst in die Kamera. Sie hat ihre Lektion gelernt.

Algün Biyan ist ein Jahr älter, seit 40 Tagen ist sie hier im Camp. "Der Stolz und die Ehre unseres Volkes ist in Gefahr, ich bin hier, um für die Freiheit zu kämpfen." Beim anschließenden Training geht einiges schief, ein paar junge Frauen schaffen den Hechtsprung über die Sandsäcke nicht oder stürzen beim Weiterhanteln mit den Armen über dem Kopf ab. Eine junge Frau tut sich sichtlich schwer, läuft an den Hindernissen vorbei, anstatt darüberzuklettern. Die anderen Frauen kichern.

Die Kommandantin holt die Rekrutin aus der Truppe. Ernsthaftigkeit ist angebracht. Nach dem Training ist Can Fida verschwitzt, sie steht atemlos bei uns. Und stößt hervor: "Wir haben viele Märtyrer. Ich habe keine Angst, zu ihnen zu gehören." Beim gemeinsamen Baden im Fluss, einem Seitenarm des Tigris, wird dann wieder gelacht.

In Sichtweite: Die Stellungen der IS.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Sharmukh: Blick auf die Stellungen der IS

Zwei Stunden von hier entfernt liegt Retaz in einer Stellung hinter Sandsäcken an seinem Maschinengewehr. Er sagt, dass er 21 ist, er wirkt wie 16. Die Stellungen der IS sind vier Kilometer entfernt, unser Fotograf kann die Männer durch sein Teleobjektiv ausmachen.

Allgegenwärtig: Von der IS zerstörte Gebäude.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

"Auf 500 Meter treffe ich mit meinem Bicsi jeden", sagt Retaz und bietet uns an, mit dem Maschinengewehr zu posieren. Er stammt aus dem iranischen Kurdengebiet und ist seit zwei Monaten hier.

Weiter unten sind Schüsse zu hören, Granaten schlagen ein, Rauch steigt auf. Der Hügel, an dem Retaz liegt, ist seit einem Monat befreit. Dass es Journalisten aus dem Westen hierher verschlägt, verwundert die Männer. "Wir sind doch nicht allein", sagt Retaz und lacht. Erinnerungsfotos werden gemacht.

In einem halb zerstörten Haus haben sich ein paar Kämpfer eingerichtet, sie haben einen provisorischen Ofen gebaut, die Nächte hier sind kühl. Auf dem Boden liegen Decken, das einzige persönliche Hab und Gut hier an der Grenze. Die meisten der Soldaten sind Kurden, Hussein ist Araber, gerade 19 Jahre alt, er hat ein offenes, freundliches Gesicht. Seit zehn Tagen ist er hier, ein Neuling. Getötet hat er noch niemanden. Er ist neugierig, wirkt wie ein Schulbub, ein wenig unsicher, aber von den Älteren gut behütet.

An der Front: Ein junger kurdischer Kämpfer ruht sich in einem halb zerstörten Gebäude aus.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

In einem Zimmer der Hausruine sitzt ein anderer junger Mann, er hat ein schwarzes T-Shirt an, "Love" steht in weißer Schrift darauf. Neben ihm an der Wand lehnt eine Panzerabwehrwaffe neuester Generation. Der Mann starrt ausdruckslos die Wand gegenüber an, ist nicht ansprechbar. Er hat Pause, erklärt Hogir, sein Kommandant.

Ein paar Kilometer weiter hat sich ein Trupp assyrischer Christen verschanzt, sie kämpfen Seite an Seite mit den Kurden, bilden aber innerhalb der YPG eine eigene Einheit. Sie bleiben lieber unter sich. Hariki heißt das zerstörte Dorf hinter ihnen, hier haben Muslime, Katholiken und assyrische Christen gemeinsam gelebt. Jetzt sind die Kirche und die Moschee zerstört, die IS hat hier gewütet. An einen Wiederaufbau ist noch lange nicht zu denken.

Die syrische Stadt Qamishli, nur 40 Minuten vom Frontverlauf entfernt.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Qamishli: Grenzstadt zur Türkei

In der Stadt Qamishli, nur 40 Minuten vom Frontverlauf entfernt, treffen wir Ario Josef, den Kommandanten der Polizeieinheit, den hier die assyrischen Christen stellen. Er ist 25, an seinem Hals baumelt ein Kreuz.

Ibrahim Abdullah Jakub, assyrischer Polizist.
Foto: STANDARD/Wolf-Dieter Grabner

Josef spricht arabisch, er muss erst bei seinem Chef nachfragen, ehe er sich mit uns zusammensetzt. Er spricht mit ernstem Gesicht zu uns, die Verantwortung, die er für die Truppe trägt, scheint ihm selbst nicht ganz geheuer zu sein.

Noch etwa 1000 assyrische Familien leben in der Stadt, erzählt er, die meisten anderen sind bereits weg, geflüchtet. Das Unverständnis über den Terror, den die radikalen Muslime hier verbreiten, eint Christen, Armenier, Araber und Kurden.

130 Männer sind bei der assyrischen Polizei, anders als bei den Kurden ist der Dienst an der Waffe hier reine Männersache. Die Polizisten kümmern sich auch um Diebstähle und greifen bei Fällen häuslicher Gewalt ein; ihre Hauptaufgabe besteht aber darin, versteckte Zellen der IS ausfindig zu machen und Selbstmordanschläge mit Autos zu verhindern.

Der letzte Anschlag ist schon ein paar Monate her, vor dem Gemeindeamt explodierte eine Autobombe. Dutzende Menschen wurden getötet, allesamt Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder. "Die IS kommt nicht offen in die Stadt", sagt Josef, "aber sie bilden hier Zellen. Sie sind gefährlich."

Ibrahim Abdullah Jakub ist einer der assyrischen Polizisten, er kommt gerade von der Streife zurück, ein fescher, junger Mann, das Tuch hat er sich lässig um den Kopf gebunden. Jakub posiert für uns gefällig vor dem Pickup. Wenn er alles andere so gut geübt hat wie den verwegenen, unerschrockenen Blick, den er jetzt aufsetzt, braucht man sich um ihn keine Sorgen zu machen. (Michael Völker, DER STANDARD, 17. November 2014)