Bild nicht mehr verfügbar.

Immer besser, immer schneller, immer schöner – die Leistungsgesellschaft nimmt mitunter ungesunde Ausmaße an.

Foto: APA/EPA/VALENTIN FLAURAUD

In seinem neuen Buch "Perfektionismus – Wenn das Soll zum Muss wird" beschreibt der Wiener Psychiater Raphael Bonelli 77 Fallbeispiele.

Foto: pattloch

"Ob in der Erziehung, der Ehe oder im Job – immer wollen wir alles richtig machen. Und dabei auch noch gut aussehen", schreibt Raphael Bonelli in seinem neuen Buch "Perfektionismus – Wenn das Soll zum Muss wird". Darin beschreibt der Wiener Psychiater von der Sigmund Freud Privatuniversität, wie das an sich ganz natürliche und gesunde Streben nach Selbstverbesserung in handfesten psychischen Erkrankungen münden kann.

"An und für sich ist Perfektionismus ja etwas Gutes, solange er dazu führt, sorgfältig, gründlich und gut zu arbeiten. Kritisch wird es dann, wenn man sehr viel länger braucht oder überhaupt nicht mehr mit der Arbeit fertig wird, weil man ständig fürchtet, es sei nicht gut genug", sagt Stephan Doering, Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Med-Uni Wien.

Angst vor Fehlern

Ein Perfektionist fordert von sich, keine Fehler zu machen. Er möchte tadellos sein, weil er Angst vor Tadel hat – und nicht deshalb, weil ihm die Arbeit an sich Freude bereitet. Die Angst, nicht zu genügen – sich selbst oder anderen – dominiert sein Leben. Ihm geht es nicht in erster Linie um seine Leistung, sondern um die eigene Unangreifbarkeit.

Je mehr Angst – vor Konsequenzen, vor Enttäuschung – im Spiel ist, umso schlimmer wird der innere Stress, den er sich macht. "Das entscheidende Kriterium ist der Leidensdruck. Solange es dem Betroffenen und seiner Umwelt gutgeht, ist alles in Ordnung. Aber in dem Moment, wo der Betroffene deshalb seinen Job verliert, ständig in der Kritik steht oder andere darunter leiden, ist es natürlich ein Problem", sagt Doering.

Irrationale Ängste, falscher Ehrgeiz

Noch vor zehn Jahren hätte man in der Psychiatrie kaum von krankhaftem Perfektionismus gesprochen, heute ist er allgegenwärtig, sagt Bonelli. Auch völlig unabhängig von Geschlecht und Beruf – das Bild, dass davon vor allem "Karrieremenschen" betroffen sind, stimmt nicht, wie sein Buch zeigt. Es kann genauso gut die Hausfrau oder der Student, der Pensionist oder die Arbeitslose betroffen sein.

Gelernte Verhaltensmuster, innere Dogmen und Erwartungshaltungen sitzen tief, wie 77 kurzweilige Fallbeispiele aus Bonellis Praxis zeigen: Sei es der zwanghafte Student, der schon Wochen vor Prüfungen an nichts anderes mehr denkt und hinterher ernüchtert ist, wenn er auch noch so gut abgeschnitten hat. Sei es der junge Ehemann, der seine ganze Energie aufwendet, um seiner Frau ein Traumhaus zu bauen, dabei aber die Familie vernachlässigt, bis es zur Scheidung kommt: Oft stecken irrationale Ängste, falscher Ehrgeiz oder veritable Lebenslügen dahinter – der Perfektionismus wird zur Fassade, zur Maske.

Weitere Geschichten im Buch handeln von der Braut, die sich nicht traut, dem hilflosen Hochstapler, von mickrigen Genitalien, übergriffigen Schwiegermüttern, Elefantenoberschenkeln oder einem eingebildeten Kranken. Allen gemein ist, dass sie sich im "Schönheits- und Leistungswahn" der Gegenwart verheddert haben.

Intro- und extravertierter Perfektionismus

Bonelli beschreibt dabei zwei Formen des Perfektionismus: den introvertierten, bei dem man sich selbst gegenüber die höchsten Ansprüche hat und diesen niemals gerecht werden kann. Und den extravertierten, bei dem man fürchtet, den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden und sie zu enttäuschen.

Vor allem am extravertierten Perfektionismus leiden nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Mitwelt. Der Perfektionist projiziert die eigenen hohen Ansprüche auch auf andere. Das spüren dann Mitarbeiter, die es ihrem pingeligen Chef nie recht machen können, oder der Ehepartner, der unter großem Druck aufgrund unerfüllbarer Erwartungen leidet. Schwierigkeiten in Beziehungen, am Arbeitsplatz, im zwischenmenschlichen Zusammenleben folgen so fast unausweichlich.

Wie entsteht Perfektionismus überhaupt? Bonelli sieht drei große Faktoren: die genetische Disposition – etwa die Hälfte der Neigung zur Entwicklung von Ängsten werde vererbt, heißt es im Buch. Erziehung und kindliche Erfahrungen: Schlechte Erinnerungen sitzen tief und prägen das Denken oftmals unbewusst das ganze Leben lang. Und nicht zuletzt der eigene Zugang: Wie stehe ich dazu? Bewahre ich eine gewisse Distanz zu meinen Gedanken, oder lasse ich mich von der Angst treiben? Gebe ich Fehler zu, auch wenn mir das schwer fällt?

Ungesunde Körperideale

Ausführlich widmet sich Bonelli den herrschenden Körperidealen, die das Problem in den vergangenen Jahren massiv verschärft hätten. In seinem Buch zitiert er aktuelle Umfragen, denen zufolge nur jede fünfzehnte junge Frau mit ihrem Gewicht zufrieden ist und ausnahmslos alle gern fünf Kilo weniger wiegen würden.

Was sich bei (jungen) Frauen vor allem in Form von Anorexie, also krankhafter Magersucht, äußert, ist bei Burschen und Männern die in den 1990er erstmals beschriebene Muskelsucht, oft auch als Adonis-Komplex bezeichnet. Hinter exzessivem Körpertraining steckt häufig das Dogma, dass sich Männlichkeit vor allem an der Muskulatur bemisst.

"Das in unseren Breiten vorherrschende Schlankheitsideal schreibt in der Zwischenzeit ein Gewicht vor, das unter dem biologisch vorgegebenen Normgewicht der normalen Frau liegt. Das ist seltsam. Noch seltsamer ist, dass es keiner mehr seltsam findet", bilanziert Bonelli. Solange es ganz selbstverständlich als Kompliment gelte, jemanden für einen Gewichtsverlust zu loben, so lange würden auch Essstörungen weiterhin Thema in der Gesellschaft sein.

Wie Bonelli therapiert

Nicht immer ist es das ganze Leben, das dem eigenen Leistungsdenken unterliegt – meist sind nur Teilbereiche, etwa Job, Partnerschaft, Kindererziehung oder Sport, davon betroffen. Dann müsse man sich fragen, warum genau dieser oder jener Teil des Lebens unbedingt perfekt sein muss.

"Keiner von meinen Patienten kommt und sagt, er ist perfektionistisch und sucht Hilfe. Sie kommen aus anderen Gründen. Doch bei ungefähr jedem Zweiten liegt Perfektionismus zugrunde", sagt Bonelli im Gespräch mit "derStandard.at". In der Therapie kristallisiere sich dies meist rasch heraus.

Mittels Psychoanalyse oder Angstkonfrontation und Gedankenübungen ("Stellen Sie sich einen perfekten Tag am Strand vor. Und dann malen Sie sich aus, was alles immer noch nicht passt") könne man dann auch gute Erfolge erzielen. Wichtig für Betroffene ist es, zu erkennen, was angemessen ist und was nicht, was wichtig ist und was nicht. Nicht immer muss alles sofort geschehen, nicht immer muss alles um jeden Preis fehlerlos sein.

Keine Akzeptanz für Fehler

"Perfektionismus in unserer Gesellschaft hat massiv zugenommen. Er ist epidemisch geworden", sagt Bonelli. Er vermutet unsicher gewordene Bindungen in Familie, Freundschaft und Partnerschaft als Hauptursache. "Aufgrund der Relativierung von Beziehung schießen die Ängste in die Höhe, werden die Menschen immer unsicherer". Aber auch ein Verlust von Werten, an denen man sich orientieren kann, würde mit dazu beitragen.

"Fehler werden in unserer Gesellschaft nicht mehr toleriert", vermutet Bonelli als übergeordnete Ursache. Nicht nur Perfektionisten, sondern wir alle sollten Fehler endlich wieder als normalen Teil des Lebens betrachten, denn davor gefeit ist ohnehin keiner. "Das Ja zu den eigenen Schwächen ist der Königsweg zum Glück", lautet das Fazit des Buchs. Die Lektüre kann auf dem Weg dabei helfen. (Florian Bayer, derStandard.at, 17.11.2014)