Wenn Sie immer schon wissen wollten, was "grotesk" eigentlich bedeutet, sei Ihnen Richard Schuberths Lesedrama "Frontex – Keiner kommt hier lebend rein" mit allem Nachdruck ans Herz (und ans Hirn) gelegt. Die "mediterrane Groteske in zwei Akten" dekliniert so ziemlich alle Synonyme durch, die der Duden für das Adjektiv "grotesk" aufzubieten hat: abenteuerlich, absurd, ausgefallen, bizarr, komisch, sonderbar, kurios, skurril ... um nur einige zu nennen.

Insel ohne Idyll

Die Handlung nimmt ihren Ausgang bei einem Robinson-Crusoe-Szenario der besonderen Art: Ein Schiff der Grenzschutzbehörde Frontex rammt ein Flüchtlingsboot. Es gibt nur vier Überlebende: den zartbesaiteten Frontex-Offizier LaBoeuf (quasi der Grenzschutz mit menschlichem Antlitz), die hartgesottene Berliner Performance-Künstlerin Flo Hagenbeck (Markenzeichen: voller Körpereinsatz), die engagierte Aufdeckungsjournalistin Swantje van Eycken ("... und ich bin Swantje van Eycken von Arte brisant") und den stummen Flüchtling "Schwarzer Körper", von dem die Berliner Schnauze Hagenbeck nicht nur künstlerisch-performativ Gebrauch macht.

Erst kommt das Fressen ...

Das zusammengewürfelte Quartett landet auf einer unbewohnten Insel, wo es nichts zu essen gibt. Die Gruppe einigt sich darauf, dass einer oder eine dran glauben muss, damit die anderen überleben können. Die ohnehin äußerst dünne Firnis der Zivilisation weicht blitzschnell einem unerbittlichen Überlebenskampf, bei dem jeder nur noch darauf aus ist, seine eigene Haut zu retten.

... und die Moral lässt sich entschuldigen

Trotz gegenteiliger Beteuerungen ist Solidarität nur noch in Spuren vorhanden, und jeder ist sich selbst der Nächste. Das trifft sogar auf Flo Hagenbeck und den "Schwarzen Körper" zu, die seit einer fragwürdigen Kunstperformance mit Handschellen aneinandergekettet sind.

Der "Schwarze Körper" fungiert zunächst als die perfekte passive Projektionsfläche für den Rassismus der anderen, wenn es auch mitunter ein positiver, ein gut gemeinter Rassismus ist. Bald emanzipiert er sich jedoch und nimmt nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern das der ganzen Gruppe in die Hand. Er macht den Vorschlag, einen Leichnam zu verspeisen, womit er die Lebenden rettet.

Mama Merkel und der böse Clown

Die Irrfahrt setzt sich jedoch fort, denn nach einer abenteuerlichen Rettung geht es weiter Richtung Lampedusa, wo die Gruppe von einem großen Kriegsschiff abgefangen wird. Keine Geringere als Angela Merkel ("Mama Merkel") steht auf der Kommandobrücke, flankiert von Dennis Quartermain, einem skrupellosen Komiker, der für die Grenzschutzbehörde Frontex die PR macht. Merkel sondert in klassischer Staatsoberhauptmanier salbungsvolle Worte ab und beschwört demokratische Werte und Menschenrechte. Für die Flüchtlinge ändert sich jedoch nichts: Sie müssen draußen bleiben. Hochgradig beklemmend sind die Parallelen zu dem realen Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik.

Es geht ans Eingemachte

Wie es mit den vier Protagonisten und ihren Leidensgenossen im zweiten Akt weitergeht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass es in diesem Lesedrama richtig zur Sache geht, schnurstracks ran eins Eingemachte und absolut bis auf die Knochen. Jeder kriegt sein Fett ab, einschließlich dem Leser, der wohl oder übel zur Kenntnis nehmen muss, dass er von seinen eigenen blinden Flecken und politischen Lebenslügen umzingelt ist. Schuberths "Frontex" ist definitiv nichts für zarte Gemüter, die es vorziehen, sich mit einer rosaroten Brille gegen die präapokalyptisch anmutende Realität zu wappnen.

Fazit: Pflichtlektüre für all jene, die nicht länger wegschauen wollen. (Mascha Dabić, daStandard.at, 14.11.2014)