Annie Mohl: "Wir haben eine Verpflichtung, den Leuten zu helfen, die hier sind."

Foto: Rotes Kreuz Schweden

Seit Jahren ist Schweden das europäische Land, das die meisten Asylwerber aufnimmt. Die damit verbundenen Kosten und der Integrationsprozess der Flüchtlinge war vor allem im heurigen Wahlkampf vor den Parlamentschaftswahlen Thema. Dabei schaffte die rechte Partei "Schwedendemokraten" auf Anhieb 13 Prozent der Wählerstimmen.

Im kommenden Jahr sollen 95.000 Asylwerber in das skandinavische Land kommen und noch immer ist laut Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung (65 Prozent) dafür, dass man Flüchtlingen im Land helfen muss. Doch die steigende Zahl an Flüchtlingen stellt Schweden vor neue Herausforderungen. Annie Mohl vom schwedischen Roten Kreuz über die Situation der Asylwerber und politische Herausforderungen.

derStandard.at: Die schwedische Einwanderungsbehörde hat ihre Prognosen für das Jahr 2015 stark nach oben korrigiert und erwartet 95.000 Asylwerber. Was bedeutet das für Schweden?

Mohl: Das ist wirklich eine Herausforderung. Ein durchschnittliches Jahr bringt etwa 30.000 Asylwerber nach Schweden. Seit einigen Jahren steigt die Zahl stetig. Heuer waren es etwa 80.000 Menschen. Die Politiker und Behörden diskutieren das.

derStandard.at: Vor welchen Herausforderungen steht die schwedische Regierung?

Mohl: Die größte Herausforderung ist, genügend Unterkünfte zu finden. Jetzt sind es so viele Immigranten, dass die Migrationsbehörde Zimmer in Hotels, Campingplätzen oder renovierten Spitälern gekauft hat. Manche dieser Unterkünfte sind weit weg von Dörfern und irgendwo im Land.

Die Situation unterscheidet sich stark, weil in manchen Orten die Flüchtlinge ihr Essen bekommen und mancherorts nicht. Wenn sie es nicht bekommen, dann müssen sie mit dem Bus in die nächste Stadt fahren, um einzukaufen. Diese Personen kommen dann mit ihrem Taggeld natürlich nicht mehr aus. Es gibt so viele Probleme, die man besprechen muss.

derStandard.at: Welche Probleme sind das zum Beispiel?

Mohl: Wenn man in Schweden Asyl bekommt, wird man von der Verantwortung der Migrationsbehörde in die Obhut des Arbeitsamtes übergeben. Früher waren es die Kommunen, die verantwortlich wurden. Die kümmern sich jetzt aber nur noch um den Schulplatz der Kinder.

Das Arbeitsamt ist seit dreieinhalb Jahren für die Unterkunft, Jobs, Sprachkurse und Sozialleistungen zuständig. Aber es gibt ein Problem mit den Unterkünften. Die Leute mit einer Aufenthaltsgenehmigung kommen im Moment nicht aus den Erstaufnahmezentren raus. Sie hängen dort fest. Die zwei Jahre, die ihnen die Regierung für Integration zusteht, beginnen dann zu laufen, ohne dass sie etwas machen können.

derStandard.at: Ende Oktober war in schwedischen Medien zu lesen, dass die Beschwerden über Mitarbeiter des Arbeitsmarktservices zugenommen haben. Wodurch lässt sich dieser Anstieg erklären?

Mohl: Ich glaube, mit dem Wechsel der Verantwortung, war die Behörde überfordert. Früher waren die Mitarbeiter nur dafür zuständig, dass Leute Arbeit finden. Darin waren sie immer gut. Bei den Themen Gesundheitsversorgung oder Familienzusammenführung haben sie allerdings keine Expertise. Die Arbeitsamtmitarbeiter geben natürlich ihr bestes aber es braucht Zeit, um die neue Verantwortung zu lernen.

derStandard.at: Neue Immigranten siedeln sich vor allem in gewissen Regionen an, wie Skåne oder Stockholm. Was muss sich ändern, damit die Personen gleichmäßiger verteilt werden?

Mohl: Alle Asylwerber dürfen sich in Schweden bei der Ankunft entscheiden, ob sie sich selbst eine Unterkunft suchen wollen oder die Regierung eine Wohnung zuteilen soll. Die, die sich selbst eine Wohnung suchen, machen das, weil sie Verwandte oder Freunde in Schweden haben. Und normalerweise befinden sich die in großen Städten.

Vor allem im Süden, in kleinen Ortschaften, befinden sich viele Asylwerber. Das hat aber nicht immer einen negativen Effekt. Kleine Dörfer mit etwa einhundert Einwohnern, die kurz vor dem Aussterben waren, sind durch 150 neue Menschen wieder mit Leben gefüllt. Den Bewohnern gefällt das.

derStandard.at: Was ist die Rolle des Roten Kreuzes in der Flüchtlingsdebatte in Schweden?

Mohl: Wir kooperieren mit der Migrationsbehörde, wenn es um soziale Aktivitäten geht. Im vergangenen Jahr haben wir unser Engagement erhöht. Waren wir im Jahr 2013 noch in 66 Unterkünften aktiv, sind wir nun bereits in 147 Häusern tätig. Wir versuchen, unsere Freiwilligen zu motivieren, vor allem in neu eröffnete Unterkünfte zu gehen und zu helfen.

derStandard.at: Wir helfen die Freiwilligen?

Mohl: In Schweden ist es zum Beispiel im Winter sehr kalt und die Asylwerber kommen oft mit Flip Flops bei minus 15 Grad Celsius an. Freiwillige geben ihnen dann passende Kleidung, trinken mit ihnen regelmäßig Kaffee oder gehen im Wald spazieren und plaudern einfach nur.

derStandard.at: Norwegen etwa argumentiert, dass es billiger ist, den Menschen in der Region zu helfen, als sie ins Land zu holen. Ist das ein berechtigtes Argument?

Mohl: Aber das ist immer ein Argument. Ich denke, dass das eine das andere nicht ausschließt. Natürlich muss man in einer Krise vor Ort helfen und die Nachbarstaaten sind immer am meisten von den Flüchtlingen betroffen. Aber das heißt nicht, dass man ihnen nicht auch in Europa helfen kann. Wir haben eine Verpflichtung. Wenn die Leute bereits hier sind, dann sollten wir ihnen auch helfen.

Es ist nur ein sehr kleiner Teil, der wirklich nach Europa kommt und hierher flieht. Die ärmsten Länder der Welt, die Nachbarstaaten, erhalten den Großteil der Flüchtlinge. Zum Beispiel während des Krieges in Afghanistan flüchteten die meisten nach Pakistan oder den Iran. Die Mehrheit der somalischen Flüchtlinge ging nach Kenia oder in den Jemen. Und jetzt Syrien: Die gehen in die Türkei oder den Libanon. (Bianca Blei, derStandard.at, XX.11.2014)