Unter der glänzenden Hülle lauern oft folgenschwere Risiken: Milch, Nüsse, Eier und Gluten etwa. Ab 13. Dezember macht die EU offen dargebotene Lebensmittel in Österreich gläsern.

Foto: Heribert Corn

Für einen Plausch über die große Welt war Maria Swoboda stets zu haben. Und diese kam über die Lebensgeschichten ihrer Kunden in ihr kleines Geschäft. Unbeirrt von den Veränderungen rundum bot sie in der Wiener Währinger Straße fünf Jahrzehnte lang feinen Konfekt und Zuckerln feil - bis ins Alter von 92. Im Herbst sperrte sie zu.

"Mein Leben ist mein Geschäft", hat sie gerne gesagt und es als Geschenk gesehen, arbeiten zu dürfen. Dann kam die neue EU-Allergie-Verordnung und mit ihr eine amtliche Aufforderung an die alte Dame zur Schulung. Sich in mögliche Unverträglichkeiten einzulesen, die Süßigkeiten auslösen können, über jede Zutat ihrer offen angebotenen Ware detailreich Auskunft geben zu können - dazu sah sie sich nicht mehr imstande.

Engel-Ecke

Sie war die einzig Verbliebene der alten Garde, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg bei der Familie Engel gelernt hat, erzählt Gerald Kontriner, Besitzer der Engel-Ecke in der Wiener Alser Straße. 18 Zuckerlgeschäfte besaß Johann Engel einst in Wien - bis er vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen musste und alle Filialen verlor. Eine erhielt er nach dem Krieg zurück, jene nahe dem Alten AKH. Dort sieht sich Kontriner, der den Standort vor 16 Jahren erwarb, heute noch die Gesetze des Gründers hüten. "Eine gute Verkäuferin ist jedes Geld wert", zitiert er, und: "Das Geschäft liegt im Detail."

Auch Engels letzten Wunsch erfüllt er, nämlich dass die Engel-Ecke die Engel-Ecke bleibt. Dabei werde sie heiß begehrt: Starbucks wollte den Platz, und auch manch prominenter Immobilieninvestor. Aber warum etwas aufgeben, mit dem es sich immer noch gut verdienen lässt? "Ich nenne dann völlig unrealistische Ablösen."

Geblendete Akademiker

Ob sich für Maria Swobodas Geschäft ein Nachfolger aus der Zuckerlbranche findet? "Wohl eher nicht", bedauert Kontriner, "auch wenn die Makler dort sicher schon Schlange stehen". Die vielen Akademiker, die ihr Glück im Gewerbe suchten, das sei halt immer so eine Sache. Tolle Ideen gäbe es ja und großes Engagement. Aber wer diese Geschäfte nicht von jung an lerne, "der lässt sich gerne blenden, vieles ist eben unrealistisch".

Kontriner will gar nicht nur von steigenden Kosten und im besten Fall stagnierenden Umsätzen reden: In Confiserie und Handel ge- he es um Konditionenpolitik, Vorauszahlungen und die Angst der Lieferanten, auf offenen Rechnungen sitzenzubleiben. Zuvor müsse man sich erst einmal einen guten Standort leisten können. In Wiens Mariahilfer Straße etwa berappen Süßwarenspezialisten für kleine Flächen Ablösen von bis zu einer Million Euro und Monatsmieten von mehr als 7000 Euro. Aber nicht zu weit abschweifen: zurück zu den Vorschriften aus Brüssel. Denn da drängt die Zeit.

Bis 13. Dezember müssen Zutaten, die Allergierisiken bergen, von Lactose- bis zur Glutenintoleranz, in lose dargebotenen Speisen klar ausgewiesen werden. Wobei der geschulte Mitarbeiter auf Nachfrage auch mündlich Auskunft geben darf. Was simpel klingt, sorgt für einen Haufen Arbeit. Vor allem in Betrieben, die von unverpackten Lebensmitteln leben wie Gastronomen, Bäcker - und die letzten verbliebenen Zuckerlgeschäfte.

Es geht sich nicht aus

Wie das alles umgesetzt werden soll und welche juristische Folgen es hat, darüber wissen bisher nur wenige detailreich Bescheid. Dass sich alle Auflagen mitten in der Hauptsaison pünktlich lückenlos erfüllen lassen, glaubt keiner. Und was folglich alle verbindet, ist die Hoffnung, dass vieles nicht so heiß gegessen wird wie gekocht - kurzum: dass das Marktamt nicht vom ersten Tag an rigoros straft.

Anton Dürnberger hat die Bürokratie schon sonderbarste Blüten treiben sehen. Jüngst erst büßte der Wiener Süßwarenspezialist mit 70 Euro dafür, statt des Wortes "Inhaltsstoffe" den Begriff "Zutaten" verwendet zu haben. "Am liebsten wäre vielen wohl eine direkte Leitung von unsereins ins Finanzamt." Seit 1950 erzeugt seine Familie unter der Marke Jonny im Kleinen Schokoware. Die älteste Tochter führt in der Neubaugasse eines der traditionsreichsten Zuckerlgeschäfte der Stadt; Kenner schätzen ihre Rumpastillen.

Endenwollendes Interesse

Natürlich wisse er um die neuen Regeln rund um Nüsse, Milch, Gluten, Eier und Co, seufzt Dürnberger. Aber wie das in der Praxis genau laufen soll, darüber habe es lange nur dürre Informationen gegeben. Nicht dass er was gegen Transparenz hat. "Ich lebe ja nicht davon, dass meine Kunden einen allergischen Schock bekommen, sondern bei uns einkaufen." Aber er frage sich manchmal schon, wie ein kleiner Betrieb mit absoluter Sicherheit versprechen könne, dass nicht ein kleines Erdnussmolekül verbotenerweise in ein nussfreies Konfekt hinüberwandere.

"Unsereins hat bis zu 300 offene Konfekte im Sortiment", ergänzt Branchenkollege Kontriner. Auch von den Verkäufern könne wohl keiner erwarten, dass sie über das Allergierisiko eines jeden Einzelnen auswendig Bescheid wissen. Abgesehen von eigens entsendeten Juristen dürfte auch das Interesse der meisten Kunden dafür eher endenwollend sein. Und die, die es wirklich betrifft, sind den Erfahrungen der Branche nach ohnedies selbst die besten Experten.

Vielfalt in Gefahr

Am Franziskanerplatz in Graz versucht Peter Linzbichler, Fachmann für alles Süße, dem Ganzen auch was Gutes abzugewinnen: Es sei ja nicht schlecht, über Allergien informiert zu sein und hier zusätzliche Kompetenz zur Schau zu stellen. "Aber rabiat viel Aufwand für einen kleinen Kundenanteil ist es schon. Man kann halt auch überreglementieren."

Viele seiner ausgesuchten internationalen Lieferanten haben auf seine Bitte hin, ihn doch mit entsprechenden Infolisten auszustatten, "bisher nicht mit einem Ohrwaschel gewackelt". Sollte einer wie er mit Auslistung drohen, wie es große Handelskette handhaben, ernte er dafür wohl herzhaftes Gelächter. Linzbichler hat allein dutzende Sorten Trüffel im Sortiment und will sich gar nicht ausmalen, wie jede Rezeptveränderung zeitgerecht bei ihm landen soll. Sein Arbeitstag habe bereits jetzt zehn Stunden. "Letztlich wird wohl die Produktvielfalt leiden." (Verena Kainrath, DER STANDARD, 14.11.2014)