Prag, Nationalstraße. Am Ort der Niederschlagung der Studentendemonstration von 1989 entsteht ein Supermarkt. Vor dem Nationaltheater erinnern Schautafeln an die November-Tage, als das KP-Regime wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Doch der Versuch, ähnlich wie in Berlin ein "Revolutions-Revival" herbeizufeiern, gelingt nicht. Die Mehrzahl der Tschechen befürwortet die Wende. Doch die im November '89 gestarteten großen Projekte der beiden "Václavs", Havel und Klaus, sind gescheitert. Weder die nationale Erzählung vom demokratischen kleinen Volk, das nach dem Ende des Bösen aus dem Osten sich daranmacht, einen Kapitalismus mit tschechischem Antlitz aufzubauen, noch das Projekt der Bürgergesellschaft haben sich durchgesetzt. Havel ist tot, sein Verbündeter und späterer Gegenspieler Klaus politisch marginalisiert.

Umso heftiger tobt der Kampf um die Interpretation der realsozialistischen Periode. Neben der wissenschaftlichen Beschäftigung und einer lustlosen juristischen Strafverfolgung ist Vergangenheitsbewältigung angesagt. Den Ton gibt dabei ein antikommunistischer Diskurs an, in dem sich meist nachgeborene Kämpfer in moralischer Empörung in der Rolle von historisierenden Staatsanwälten gefallen. Je länger die Zeit der Diktatur vorbei ist, umso größer wird die Zahl der "Widerstandskämpfer" gegen sie - wider den historischen Erfahrungswelten breiter Teile der Bevölkerung.

Über Tschechien hinaus

Zu bezweifeln ist, ob diese Art des nachholenden Antikommunismus (der in seinen Mechanismen dem österreichischen Antifaschismus ähnelt) zur Beantwortung von Fragen beiträgt, deren Relevanz weit über das tschechische Beispiel hinausreicht. Dienten etwa die Schauspieler, bevor sie auf die Straße gingen, vorher wirklich jahrzehntelang aus Überzeugung dem Regime - oder wollten sie nicht vielmehr ihrer Profession nachgehen und waren damit zu Kompromissen bereit, die auch der intellektuellen und künstlerischen Kaste von heute nicht ganz unbekannt sein sollten? Gleichzeitig jedoch leisteten gerade Künstler durch ihr Wirken einen Beitrag dazu, das Regime erträglicher - und damit auch wiederum (Vorsicht: Ambivalenz!) stabiler zu machen.

Auch die Rolle der Opposition wird debattiert - ist es möglich, die "Dissidenten" nicht als säkulare Heilige, sondern als normale Menschen zu zeigen, ohne deren moralische Leistungen und erbrachten Opfer zu relativieren? Muss nicht die Interpretation des Dissens als dezidiert antilinkes Projekt nicht einer pluralistischen Betrachtungsweise Platz machen, in der auch die Reformkommunisten ihren Platz (wieder-)bekommen, ohne auszublenden, dass sie in den 1950ern selber am Aufbau des Systems beteiligt waren?

Und wäre es - spiegelbildlich betrachtet - nicht an der Zeit, in Österreich wiederum jene in den Narrativen stärker zu berücksichtigen, die ihren Widerstand gegen das NS-Regime aus einer dezidiert konservativen und katholischen Grundhaltung leisteten und damit nicht in die hierorts gängigen Narrative passen? Und zwar, ohne diesen mit Hinweis auf deren "austrofaschistische" Vergangenheit abzutun. Was unsere Gesellschaften brauchen, ist differenziertes Herangehen statt holzschnittartiger Darstellung im Umgang mit der Vergangenheit von Regimen, in der die Frage nach dem Mittun und Widerstand eine des täglichen (Über-)lebens war. (Niklas Perzi, DER STANDARD, 17.11.2014)