Shinzo Abe hat gesprochen: Das Parlament ist aufgelöst, die Mehrwertsteuererhöhung verschoben – die kommenden Neuwahlen in Japan werden ganz klar ein Referendum über die Reformpolitik des Premierministers und seiner Koalition aus Liberaldemokraten und New Komeito sein. Mit einem Verlust der Mehrheit im Unterhaus rechnen Experten nicht, allerdings mit einer Schwächung der Koalition, die den Handlungsspielraum des Premiers durchaus einschränken würde.

Seit seinem Amtsantritt Ende 2012 hat Abe hat einiges in Bewegung gebracht. Mit den "Abenomics" hat er versucht, Wachstum in einer ermatteten, demografisch de facto stillstehenden Marktwirtschaft anzukurbeln. Gelungen ist dies bisher nicht. Im Gegenteil: Über dem Land der aufgehenden Sonne haben sich Rezessionswolken zusammengezogen. Die Exportwirtschaft ist nicht in der Lage, Nippon neue Vitalität zu injizieren. Die Inlandsnachfrage stagniert (wie in Europa übrigens). Die überalterte Gesellschaft Japans braucht nichts, kauft nichts mehr.

Mit der Neuinterpretation der pazifistischen Verfassung ist dem Premier das gelungen, was er schon in seiner ersten Amtszeit 2006–2007 versuchte. Seit dem 1. Juli dieses Jahres ist für Tokio kollektive Selbstverteidigung und das Beispringen in Not geratener Alliierter explizit eine Option. Das mag realpolitisch angesichts der Territorialdispute mit China durchaus wichtig sein. Und es mag Abes ideologischer und persönlicher Agenda – sein Großvater, der spätere Premier Nobusuke Kishi, war als Kabinettsmitglied vor dem Zweiten Weltkrieg der Kriegsverbrechen verdächtig – Genüge tun. An den ökonomischen Sorgen der meisten Japaner allerdings geht das vorbei.

Abe hat sich in den vergangenen beiden Jahren als Premier, aber noch nicht als echter politischer Führer aller Japaner erwiesen. Dass das Land Reformen wie mehr Wettbewerb und mehr Öffnung braucht, ist eine wohlfeile Weisheit. Nachfrage besteht vor allem aber nach einer neuen Vision für Nippon; nach einem Traum, der die grassierende Depression auch in den Köpfen der Japaner vertreibt. Einen solchen hat Shinzo Abe weder gefunden noch kommuniziert. Die Katastrophe von Fukushima hätte eine bittere Gelegenheit für einen solchen Neuanfang geboten, eine strategische Energiewende wäre denkbar gewesen. Aber diese Chance ist ungenutzt verstrichen.

So wird Japan weiterhin auf seinen neuen Traum warten müssen. Und daran werden auch die Neuwahlen nichts ändern. (Christoph Prantner, derStandard.at, 18.11.2014)