In Österreich leben zwischen 8000 und 9000 Menschen mit Querschnittslähmung. Harnwegsprobleme betreffen praktisch alle davon. Jetzt könnten Lösungen für das Problem in Sicht sein.

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Salzburg - Als ob die Situation nicht schon schlimm genug wäre: Wer infolge eines Unfalls oder einer Krankheit querschnittsgelähmt wird, büßt nicht nur einen Großteil seiner Mobilität ein. Er verliert auch noch die Kontrolle über eine der wichtigsten Körperfunktionen. Durch die Schädigung des Rückenmarks fällt nämlich die Koordination zwischen Hirn und Harntrakt aus. Die sogenannte Miktion ist gestört, der Betroffene kann nicht mehr normal urinieren. Das hat gravierende Folgen.

Die meisten Krankheiten entstehen bei Menschen mit Querschnittslähmung durch Schädigungen der Harnwege, erklärt der Urologe Reinhold Zimmermann von der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Nach dem Rückenmarkstrauma sind die Muskeln zunächst nur schlaff, doch etwa drei Monate später beginnt ein seltsamer Wandel.

Der Schließmuskel, von Ärzten auch Sphinkter genannt, sowie die Blasenwand verändern sich nach und nach. "Schicksalshaft und irreversibel", wie Zimmermann betont. Der Hintergrund: Durch mangelnde Rückkopplung mit dem Gehirn entsteht ein völlig eigenständiger Blasenreflex. Je nachdem, wo genau das Rückenmark verletzt ist, hat das sehr unterschiedliche Folgen. Nicht selten beginnen die Muskeln, sich spastisch zu bewegen, berichtet Zimmermann: "Schließmuskel und Entleerungsmuskulatur können sogar gleichzeitig kontraktieren." Kommt es immer wieder zu diesen krampfartigen Zuständen, wachsen die Muskeln stark an. Wie durch eine Art unerwünschtes Training.

Verhindern lassen sich die Harnwegsprobleme leider noch nicht. Jeder querschnittsgelähmte Patient ist davon betroffen. In Österreich sind das laut Zimmermann zwischen 8000 und 9000 Menschen. Die Störungen führen häufig dazu, dass die Patienten inkontinent werden oder ihre Blase nur mehr unvollständig entleeren können. Der Urinrückstau schadet langfristig den Nieren - bis hin zur Niereninsuffizienz. Hochriskant sind dann auch bakterielle Infektionen des Harntrakts.

Gesunkene Gefahr

Früher drohte den Betroffenen in solchen Fällen eine lebensbedrohliche Urosepsis. Diese Gefahr ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch deutlich gesunken. "Die symptomatischen Therapien sind heute wesentlich besser", sagt Zimmermann.

Es gibt mehrere Ansätze zur Behandlung von Blasenproblemen bei Querschnittsgelähmten: Die sicherste Methode ist laut Zimmermann die Selbstkatheterisierung. Dabei führt der Patient mehrmals täglich einen Einwegkatheter in seine Harnröhre ein und kann so regelmäßig urinieren und dabei die Blase praktisch vollständig entleeren. Von gezieltem Klopfen auf die Bauchwand rät der Urologe ab. So könne zwar der Blasenreflex ausgelöst werden, dies geschehe dann aber unkontrollierbar. Keine gute Option also.

Um die spastischen Muskelkontraktionen zu stoppen, wird in einigen Fällen Botox in den Schließmuskel injiziert. Oder direkt in die Blase. So lässt sich der Druck reduzieren. Denn das Nervengift blockiert die Signalübertragung aus den steuernden Neuronen. Die Wirkung hält ungefähr drei bis neun Monate an, danach regenerieren die Nervenenden. Manchmal greifen behandelnde Mediziner auch zur Sphinkterotomie, sagt Zimmermann. Dabei wird der Schließmuskel aufgeschnitten. "Der Patient ist dann aber dauerhaft inkontinent."

Nerven gezielt anregen

Der Mediziner sucht daher nach einer eleganteren Lösung. Zusammen mit weiteren Spezialisten aus Salzburg und Rumänien arbeitet Zimmermann an der Entwicklung einer neuromodulatorischen Methode. Die Idee dahinter: Die Nerven zur unmittelbaren Steuerung der Blasenentleerung sind bei querschnittsgelähmten Menschen normalerweise noch vollständig vorhanden. Wenn man diese gezielt anregt, so die Überlegung, ließe sich die geregelte Entleerung womöglich wiederherstellen.

Ganz neu ist der Ansatz nicht. Schon 1989 gelang es US-Forschern, durch elektrische Stimulation der Sakralnerven bei Testpersonen die Blase zu entleeren. Inzwischen ist diese sogenannte sakrale Neuromodulation zur Behandlung von verschiedenen Miktionsstörungen gängige Praxis. Bei den meisten querschnittsgelähmten Patienten sind die Ergebnisse allerdings nicht zufriedenstellend. Die Entleerung folgt einer starren Routine und richtet sich nicht nach dem Urinvolumen. Die Sensorik zur Füllmenge fehlt. Dadurch kann der Druck wieder ungesund ansteigen und die beschriebene Veränderung in Gang setzen.

Als alternatives Stimulationsziel haben Zimmermann und seine Kollegen unter anderem den Pudendusnerv ins Visier genommen: "Er ist sowohl für die Sensorik als auch für die Motorik von Blase und Schließmuskel zuständig", so der Urologe. Natürlich sind an der komplexen Steuerung der Blasenentleerung noch weitere Nervenbahnen beteiligt. Einen zentralen Schalter gibt es nicht, wie Zimmermann betont, doch der Pudendusnerv dürfte eine Hauptrolle spielen. Man hofft, dass er zu einer erheblichen Druckerleichterung führen kann. Ein erster Schritt zur echten Neuromodulation.

Das Expertenteam hat bereits erste Versuche zur Stimulation des Pudendusnervs bei Schweinen durchgeführt. Sie gelten als ideales Modell für die menschliche Blasenfunktion. Für die Implantation der Elektroden setzen die Wissenschafter auf ein Verfahren, das minimalinvasiv und bestens steuerbar ist.

Das experimentelle Platzieren der Elektroden erwies sich im Tierversuch als unproblematisch, der Nervus pudendus konnte anschließend zuverlässig angeregt werden. "Zur Wiederherstellung sämtlicher Funktionen müssen wahrscheinlich mehrere Nerven gleichzeitig stimuliert werden", sagt Reinhold Zimmermann. Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 19.11.2014)