Wien - Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat vergangene Woche die Gemüter erhitzt. Die Richter in Luxemburg entschieden, dass Deutschland einer rumänischen Zuwanderin Hartz-IV-Leistungen vorenthalten kann, weil die Frau zuvor in Deutschland nicht erwerbstätig war. Dem Zuzug in das Sozialsystem wurde also ein Riegel vorgeschoben.
Auch die österreichischen Sozialrechtsexperten beschäftigen sich immer wieder mit dem Phänomen des vermeintlichen "Sozialtourismus". Spannend ist die Judikatur betreffs der Ausgleichszulage, die den Beziehern eine Mindestpension (857 Euro für Alleinstehende, 1286 Euro für Paare) sichern soll. Auch hier gab es im Vorjahr ein Urteil des EuGH, das im Vergleich zum Hartz-Erkenntnis aber weniger restriktiv war.
Worum ging es in dem Fall? Der deutsche Pensionist B. zog mit seiner Gattin nach Österreich und beantragte die Ausgleichszulage. Die Pensionsversicherung lehnte seinen Antrag ab. Die Begründung: B. verfüge nicht über ausreichende Existenzmittel, was Voraussetzung für einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich sei. Der Oberste Gerichtshof (OGH) schaltete schließlich den EuGH ein, um Klarheit zu bekommen.
Wie der Sozialrechtler Walter Pfeil im Fachmagazin Das Recht der Arbeit schrieb, brachte das Urteil aber "nicht die erhoffte Klärung, sondern hat fast noch mehr Fragen aufgeworfen".
Umfassende Kriterien
Um die Kritik zu verstehen, muss man sich zunächst den Richterspruch näher ansehen. Zunächst wurde festgehalten, dass die Ausgleichszulage als "Sozialhilfeleistung" einzustufen sei. Für zulässig erklärt wurde auch die heimische Praxis, die Leistung vom Vorliegen eines "rechtmäßigen Aufenthalts" abhängig zu machen. Mit dieser Formulierung wollte die Regierung zugewanderte Ausgleichszulagenbezieher de facto ausschließen. Ein "rechtmäßiger Aufenthalt" liegt nämlich nur vor, wenn man für sich und seine Familie sorgen kann.
Automatisch dürfe man Ausländer allerdings auch nicht ausschließen, so der EuGH. Er formulierte weitere Bedingungen, die vorliegen müssen. Von einer "unangemessenen Inanspruchnahme" könnten die nationalen Behörden nur nach "umfassender Beurteilung" ausgehen. Zu prüfen sei, welche "Belastungen dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit" entstehen und welche "individuellen Umstände des Betroffenen" vorlägen. Konkret sei zu berücksichtigen, über welche Einkünfte B. verfüge, wie lange die Leistung voraussichtlich bezogen wird und wie viele vergleichbare Fälle es im Land gibt.
Für Walter Pfeil sind die Kriterien "überaus widersprüchlich und zudem nicht administrierbar". So könne ein Einzelfall "nie das Gesamtsystem gefährden". Bei derart hohen Anforderungen bestehe das Risiko, dass die Behörden gar nicht mehr prüfen.
Auf Basis des EuGH-Urteils wurde der Fall B. schließlich vom OGH entschieden. Dieser habe die "Probleme und Widersprüche offenkundig erkannt und versucht sie - auf kurzem Weg, aber nicht unelegant - zu vermeiden", wie Pfeil schreibt. Die umfassenden Kriterien des EuGH umschiffte der OGH nämlich. Er beschränkte sich auf die Frage des Aufenthalts. Da B. von der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg eine Anmeldebestätigung in Händen hatte und kein fremdenpolizeiliches Aufenthaltsverbot vorlag, bekam der Deutsche die Ausgleichszulage zugesprochen.
Die eigentliche Streitfrage, ob allein durch die Unionsbürgerschaft dauerhafte Ansprüche auf die Ausgleichszulage entstehen können, wurde daher durch den OGH "nur verschoben", wie Pfeil schreibt. Mit dem Hartz-Urteil dürfte jetzt mehr Klarheit geschaffen sein. (Günther Oswald, DER STANDARD, 19.11.2014)