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Eine Straßenszene im Mai 2014. Das Mauerbild zeigt die Oper von Odessa.

foto: aP/Vadim Ghirda

Ukraine. Kaum ein Thema geht in letzter Zeit so durch die Medien und bringt Menschen aller gesellschaftlichen Gruppierungen gleichermaßen zum Nachdenken wie die politische Situation dieses riesigen Landes im Osten. Kiew, wo vor einem Jahr das Drama seinen Anfang genommen hat, liegt nur gut 1000 Kilometer Luftlinie von Wien entfernt, ist Wien sogar etwas näher als Paris. Wer war schon einmal in Paris? Und wer in Kiew? Politische Analysen und Opferzahlen bestimmen die Medienberichterstattung. Einzelschicksale, wie jenes einer 14-jährigen Schülerin, gehen oft unter.

Nennen wir sie Tatyana. Sie ist vor wenigen Monaten nach Wien gezogen. Ihr Vater hatte schon einige Zeit in Österreich gearbeitet und die Familie nachgeholt. Die Entscheidung, zu gehen, haben die Unruhen in ihrem Heimatland natürlich nicht eben erschwert. Davor hat Tatyana in Odessa gelebt, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer mit rund einer Million Einwohnern. Ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt wurde Odessa – wie so viele andere Orte in der Ukraine auch – durch Gewalt: Am 2. Mai eskalierte die Situation während einer Demonstration. Was mit Frauen, die die Farben der Ukraine als Blumenketten trugen, angefangen hatte, endete mit – laut offiziellen Angaben – 48 Toten. Und einigen Tagen schulfrei, weil niemand eine Ahnung hatte, was da jetzt im Gange war.

"Krieg in meinem Land"

Tatyana hatte vor einem Jahr nicht einmal die leiseste Ahnung davon, was noch passieren würde. "Es ist schrecklich, dass in meinem Land Krieg herrscht. Wirklicher Krieg. Viele Ukrainer sind schon gestorben, auch Kinder. Es ist grauenvoll. Es ist kein Horrorfilm im Kino, es ist die Wahrheit – Krieg in meinem Land."

Es sei schade, dass die Krawalle das Erste waren, was die Welt seit langem über ihre Heimatstadt mitbekommen habe, sagt Tatyana. In ihren Augen ist Odessa so viel mehr: ein "melting pot of nations" des Ostens – so vielfältig ist die Herkunft der Bürger. Das Opernhaus wurde von denselben Architekten wie denen des Volkstheaters in Wien erbaut. Das Mädchen beschreibt das Lebensgefühl als leicht und weltoffen: Man spricht noch miteinander und scherzt mit Wildfremden in einem russischen Dialekt.

Tatyana ist 14, also im Jahr 2000 geboren. Elf Jahre vor ihrer Geburt brach das System des Kommunismus zusammen, ein Jahr später die Sowjetunion. An die Orangene Revolution 2004 kann sie sich nicht erinnern. Wie sollte sie auch?

Sie stammt aus einem bürgerlichen Haushalt und hat einen Bruder. Ab drei Jahren besuchte sie einen der relativ billigen Kindergärten, die den ganzen Tag offen haben, mit sechs wurde sie eingeschult. Theoretisch gehen ukrainische Kinder zwölf Jahre zur Schule, praktisch wird das vierte Jahr allerdings immer übersprungen. Die Benotung basiert auf einem Zwölfpunktesystem; das würde sicher auch viele der hiesigen Lehrer nicht stören.

Die 14-Jährige hat das beste Gymnasium Odessas besucht. Diese öffentliche (!) Schule verfügte über Mittel, von denen man in Österreich nicht zu träumen wagt: Swimmingpool und iPads für alle Schüler. Es gibt eine Aufnahmeprüfung, die Rate der Schüler, die nach dem Examen – dem Pendant zu unserer Matura – an eine Universität gehen, beträgt fast 100 Prozent. Die Akademikerquote ist in der Ukraine allerdings generell relativ hoch.

Anspruchsvoller Unterricht

Tatyana beschreibt den Unterricht als anspruchsvoller als hierzulande, die Lehrer als konsequenter. Zum Beispiel gibt es jeden Sommer eine Leseliste von ungefähr 50 Büchern. Jede Schule hat eine eigene Schuluniform, unterrichtet wird an fünf Tagen die Woche jeweils sieben bis acht Stunden.

Ein Kuriosum, wenn auch ein vernünftiges, ist, dass alle Schüler auf ihre körperliche Belastbarkeit getestet werden. Auf die Ergebnisse wird der Sportunterricht zugeschnitten. Was die Sprache betrifft: Als Tatyana 2006 die Schule begann, war allein Ukrainisch die Unterrichtssprache, seit 2008 wird die Hälfte des Unterrichts auf Russisch gehalten. Interessant, allerdings wahrscheinlich nicht immer von allen Beteiligten so gewünscht, ist auch, dass die Eltern die Noten ihrer Kinder jederzeit über das Internet einsehen können. Allgemein gilt: Keine Politik in der Schule!

Teenagerleben in Odessa

Und wie sieht das Leben eines Teenagers aus Odessa sonst noch aus? Nicht so viel anders als das eines österreichischen. Auch in der Ukraine wird gemeinsam gegessen und ins Kino gegangen. Der große Unterschied: Der Junge zahlt immer. Genauso wie er es in Gegenwart eines Mädchens vermeidet, zu fluchen, und seiner Freundin immer die Tasche trägt. Beneidenswert … Doch Tatyanas Freund ist in der Ukraine. Sie trägt die Halskette, die er ihr damals geschenkt hat. (Paulina Huber, derStandard.at, 1. Dezember 2014)