STANDARD: Die Einsamkeit durchzieht Ihren Roman. Sie schickt Krankheiten und ist "größer als alles Große". Im Heim befällt sie jeden. Sie greift um sich ...
Max Blaeulich: Das Thema Einsamkeit ist eines der grausamsten. Diese Verlassenheit, wie ich sie bei Frau Berta schildere, hat eine solche Totalität, dass sie existenziell bedrohlich wirkt. Die Frau Berta hat mit vier ihre Mutter verloren. Vor ihrem Tod hat ihr die Mutter aufgetragen, auf die Schwester aufzupassen. Von da an waren die Schwestern auf sich allein gestellt, weil der Vater ein Säufer war. Die Frau Berta hatte im Grunde nie Eltern und wurde dann noch von ihrer Schwester getrennt. Das prägt einen Menschen. Schon in der Kindheit hat der Sterbeprozess der Frau Berta angefangen. Und dieser Prozess des Sterbens ist es, der mich interessiert. Nicht um den Tod als solchen geht es mir. Das Dahinsterben ist das Furchtbare. Je einsamer ein Mensch ist, desto stärker empfindet er dieses Sterben.
STANDARD: Ist das exzessive Putzen, das die Frau Berta umtreibt, ein Versuch, gegen diesen Prozess zu kämpfen?
Blaeulich: Für die Frau Berta ist nur noch hartnäckiges Putzen sinnstiftend. Tatsächlich kannte ich eine Frau, die aus gutem Hause stammte und zuletzt nur mehr geputzt hat. Sie litt an manischer Depression, und in diesem Putzen, etwas sauber zu hinterlassen, fand sie den einzigen Sinn.
STANDARD: "Ich hatte das Gefühl, eine gewisse Form der Asylierung ergreife von mir Besitz", sagt der Erzähler an einer Stelle. Diese Vereinnahmung lässt an Kafka denken ...
Blaeulich: So ein Asyl ist wie ein Krake. Sie greift aus. Der Erzähler geht hin, sitzt am Tisch mit den Alten, redet mit ihnen, erfährt Geschichten, fühlt sich wohl. Und plötzlich geht er nicht mehr nach Hause. Man könnte das kafkaesk nennen. Da aber das Alter jeden trifft, ist diese Metapher gestattet.
STANDARD: Das Armenasyl zeigt ein unheimliches Eigenleben. Der Pfleger taucht plötzlich nicht mehr auf ...
Blaeulich: Dieser Giacomuzzi verschwindet. Er kommt nicht mehr, ist nicht mehr greifbar. Und trotzdem ist die Welt voll mit diesem Begriff "Giacomuzzi". Ich mag es, wenn nicht alles erzählt wird, sondern der Leser spekulieren muss, wie etwas zu verstehen ist. Das wollte ich mit diesen Figuren, die da sind, aber nicht greifbar. Das könnte auch eine Metapher sein für unser Leben: Wir sind da und doch nicht da. "Ich ist ein anderer", sagte Rimbaud.
STANDARD: Den Verfall der Bewohner schildern Sie schonungslos. Gibt es ein menschenwürdiges Altern?
Blaeulich: Ich bezweifle, dass es das gibt. Das Alter ist ein Chaos. Altwerden ist chaotisch und lächerlich. Der Mensch ist sexuell tierisch und im Alter lächerlich. Obwohl mein Roman trostreich ausgeht: Die Frau Berta springt in ihrem roten Kleidchen davon.
STANDARD: "Ich begriff allmählich, warum man alt werden muss: weil man irrewerden muss, um die Welt zu verstehen ...", denkt Ihr Erzähler. In der Tat zeichnen Sie ein zutiefst deprimierendes Bild des Lebens ...
Blaeulich: Es ist die uns eigene Natur, die uns irrewerden lässt. Vielleicht würden wir unser Dasein gar nicht aushalten, wenn wir nicht vergessen könnten, Situationen beschönigten oder unser Leben auch komisch sähen. Mein Buch enthält viele Stellen, die komisch sind. Es gibt wirklich etwas zum Lachen. Da geht ein Mensch herum und steckt hölzerne Keilchen unter Türen und Tische. Aber nichts bleibt stabil im Leben. Alles kracht runter: Geld, Ideen.
STANDARD: Aber ist das zum Lachen?
Blaeulich: Karl Ignaz Hennetmair, ein Freund von Thomas Bernhard, erzählte mir die Geschichte, dass sie in einem Landgasthaus zusammensaßen und schon einiges getrunken hatten und ein Holzknecht witzige Geschichten erzählte, sodass sie sich bogen vor Lachen. Plötzlich stand der Knecht auf, ging hinaus und kam nicht mehr. Als sie nach ihm suchten, stellten sie fest, dass er sich erhängt hatte. Das ist witzig und tragisch. Da sehe ich meine Literatur. Ich möchte, dass Lesern das Lachen im Hals steckenbleibt.
STANDARD: Ihr Roman wirft die Frage nach einem gelingenden Leben auf. Gibt es so etwas?
Blaeulich: Ich habe in meinem Leben immer ein Gelingen gesucht. Mittlerweile bezweifle ich, dass es das gibt. Da ist nur eine kurze Zeitspanne, in der sich das Leben formt, die Zeit der Berufswahl, der möglicherweise ein Gelingen im Beruf folgt, der Partnerwahl und des Kinderkriegens. Dann ist es auch schon wieder vorbei. Vielleicht bin ich Alkoholiker, weil ich es nicht anders ertragen kann.
STANDARD: Erzählt Ihr Roman eine wahre Geschichte?
Blaeulich: Es ist alles wahr. Als Antiquar kommt man immer an Geschichten. In Verlassenschaften entdeckt man kuriose Sachen. Da findet man Dokumente und Fotos oder Bündel von Briefen aus dem Krieg, aus Stalingrad, aus der Gefangenschaft. Noch während man überlegt, ob man das alles wegschmeißen soll, beginnt man zu lesen und stößt auf Geschichten, die haarsträubend sind.
STANDARD: Tatsächlich sind die schrecklichsten Begebenheiten in Ihren Romanen wirklich passiert. Wie stellt sich dieses Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit für Sie dar?
Blaeulich: Die Literatur ist Wirklichkeit. Und Wirklichkeit ist Literatur. Wer sagt, dass meine erfundenen Gedanken nicht meine wirklichen Gedanken sind oder in einem Verhältnis zu einer anderen Wirklichkeit stehen? Wir denken in Bildern. Das sagte schon Hegel. Wir meinen etwas. Aber das Gemeinte ist nicht das Wirkliche. Das Wirkliche müsste etwas Großes sein. Vielleicht ist die Frage nach der Wirklichkeit die Frage nach Gott. Was ist am Endpunkt der Wirklichkeit? Da ich das nicht weiß, interessiert mich die Lächerlichkeit am meisten.
STANDARD: Das Schicksal führte die Frau Berta durch halb Europa. War dieser Weg zwischen den Kriegen ein häufiger gewesen?
Blaeulich: Als die Glasfabriken in Österreich zusperrten, gingen die Arbeiter nach Böhmen. Infolge der Weltwirtschaftskrise mussten auch die Glasfabriken zusperren, und die Arbeiter zogen weiter nach Rumänien, das aufgrund seiner Erdölvorkommen ein relativ reiches Land war. In den 30er-Jahren erwischte sie jedoch das Schicksal. Da man nicht in die Sowjetunion gehen konnte, kehrte man zurück nach Österreich. Besonders wichtig war der Heimatschein. Aufgrund dieses Scheins war die Gemeinde verpflichtet, für die Menschen zu sorgen. Sonst hätten sie verhungern können.
STANDARD: Was Sie zeigen, ist das Weiterwirken des nationalsozialistischen Denkens und des Judenhasses nach Kriegsende. Wird das verklärt, indem man den Wiederaufbau in den Vordergrund rückt?
Blaeulich: Das war die große Idee. Was damals noch mit den Juden geschah, verdrängte man. Einer der bedeutendsten Lyriker, Albert Ehrenstein, kam 1946 aus New York zurück nach Wien. Man sagte ihm nicht, er solle bleiben. Unmittelbar nach 1945 erinnerte man nicht an die ermordeten Menschen. In Salzburg gab es eine Sammelstelle, von der die Juden über den Tauern nach Italien reisten, um mit dem Schiff nach Palästina fahren zu können. Man forderte sie nicht zum Bleiben auf. 1946/47 fand in Bad Ischl eine Zusammenrottung von Nationalsozialisten statt, die sich empörten, dass die Juden richtige Milch bekämen, während sie nur Milchpulver hätten. In Polen gab es nach 1945 bis in die 50er-Jahre immer noch Pogrome. Man verfolgte die Menschen weiterhin.
STANDARD: "Unwillkürlich dachte ich an Gottliebs Frage 'Was macht die Kunst?'", heißt es in Ihrem Roman. Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch bildender Künstler. Was kann die Kunst im Angesicht des Todes?
Blaeulich: Freude bringen. Wenn ein Bild entsteht, das man als Idee im Kopf trägt, bereitet das Freude. Früher habe ich mich gefragt, ob ich schreiben oder malen soll. Heute stelle ich mir die Frage nicht mehr. Es ist vollkommen egal, ob ich Bilder entwerfe oder Romane schreibe, in denen auch die Kunst zu Wort kommt.
STANDARD: Sie haben an dem Roman sehr lange geschrieben. Welche weiteren literarischen Pläne haben Sie?
Blaeulich: Ich arbeite an einem Buch, in dem der Erzähler alte Menschen auftreten lässt. Sie sind achtzig Jahre alt, begreifen sich aber wieder als Kind und erzählen aus der Perspektive eines Kindes. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 22./24.11.2014)