In Zeiten knapper Staatskassen und strenger europäischer Budgetvorgaben wird die Suche nach Einsparungsmöglichkeiten intensiver, und sie landet - wie fast immer - unweigerlich bei den Pensionsausgaben. Wobei ein Element dabei neuerdings hervorsticht: Die Pensionsbelastungen der nächsten und übernächsten Zukunft haben mit der demografischen Entwicklung zu tun, die uns in den nächsten 20 bis 30 Jahren relativ viele Personen im Alter 65 plus und relativ wenige im Erwerbsalter, jedenfalls aber mehr Pensionisten denn je bescheren wird. Hinzu kommt - als Kostenturbo - die ständig steigende Lebenserwartung. Was liegt daher näher, als die Pensionen mit der Lebenserwartung auf eine Weise zu verknüpfen, welche die Sache gleichsam automatisch regelt: Wer statistisch länger leben wird, soll entweder weniger Pension bekommen oder die Pension entsprechend später antreten.

Diese Variante vertritt - wie auch schon die OECD - seit 2012 immer wieder Ulrich Schuh vom Wirtschaftsinstitut EcoAustria gemeinsam mit anderen Fachkollegen: Die Gruppe propagiert ein rein versicherungsmathematisches Modell der gesetzlichen Pensionsversicherung mit fiktiven Beitragskonten, d. h. es werden nicht wie bisher die Arbeitsverdienste, sondern die geleisteten Pensionsbeiträge, als ob sie angespart wären, für die Pensionsbemessung herangezogen und deren (aufgewertete) Gesamtsumme durch die Monate der im Zeitpunkt des Regelpensionsalters jeweils bestehenden Lebenserwartung dividiert. Wenn die Lebenserwartung steigt, soll dadurch automatisch die Pensionshöhe sinken; man kann aber dadurch gegensteuern, dass die Pension später in Anspruch genommen wird. Staatliche Zuschüsse sollen das Absinken der Pensionshöhe durch diese Berechnungsart (nach Berechnungen der Arbeiterkammer um 30 bis 40 Prozent) abmildern.

Pensionsautomatik

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner ist vor wenigen Tagen mit vergleichbaren Vorstellungen an die Öffentlichkeit getreten: Er will aber nicht gleich das System ändern, aber das Pensionsantrittsalter mit der Lebenserwartung koppeln, sodass es sich mit dieser automatisch erhöht.

Der demnächst fällige Europäische Aging Report 2015 (ökonomische und budgetäre Prognosen für die EU-Staaten für 2010 bis 2060) wird erstmals ein "Shift Alternativszenario" enthalten, das die Pensionsausgaben der Mitgliedsstaaten während der nächsten fünf Jahrzehnte unter der Annahme prognostizieren soll, dass das Pensionsantrittsalter mit der Lebenserwartung gekoppelt wird. Da dieses Szenario zwangsläufig erhebliche Einsparungen gegenüber einem Modell ohne Berücksichtigung der Lebenserwartung mit sich bringen muss, kann es des Beifalls vieler, vor allem auch neoliberaler Strömungen gewiss sein.

Aber was ist von einem solchen Modell zu halten? Ist es wirklich der Königsweg? Drei Punkte sind in der Debatte darüber bisher zu kurz gekommen:

Q Erstens würde jede Altersgruppe eine andere Pensionsformel haben, da ja die Lebenserwartung im Zeitverlauf ständig steigt. Auch würde das Erleben der statistischen Lebenserwartung so zum finanziellen Risiko des Einzelnen: Stirbt jemand vor der statistischen Lebenserwartung, hat er Pech gehabt, stirbt er nachher, profitiert er. So wird ein Teilrisiko, das bisher immer die Versichertengemeinschaft getragen hat, an den Einzelnen zurückgespielt - ein Bruch mit der Risikosolidarität als einer Konstituante der Sozialversicherung.

Q Zweitens lässt dieses System fundamentale epidemologische Erkenntnisse unberücksichtigt, die von einer Forschergruppe um Sir Michael Marmot am University College London in der "Whitehall Study" 2007 veröffentlicht wurden. Aufgrund 30-jähriger Forschungstätigkeit hat man - stark vereinfacht - festgestellt, dass arme und schlecht ausgebildete Menschen eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als wohlhabende, gut ausgebildete. Hauptverantwortlich dafür sind nur zu einem Drittel die typischen Risikofaktoren Rauchen oder schlechte Ernährung, überwiegend aber die Zufriedenheit und Anerkennung am Arbeitsplatz.

Ein Modell, welches Pensionen nach der durchschnittlichen Lebenserwartung bemisst oder später anfallen lässt, führt daher dazu, dass die Armen und schlecht Ausgebildeten relative Verluste und die Reichen und gut Ausgebildeten relative Gewinne verzeichnen. Es erfolgt also eine Umverteilung von unten nach oben und damit das genaue Gegenteil von dem, was die zentrale Aufgabe der gesetzlichen Sozialversicherung seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert immer gewesen ist: ein Bruch mit dem Grundsatz der Einkommenssolidarität.

Q Drittens: Wenn es um die Unterschiede in der Lebenserwartung geht, so steht in der Pensionsdebatte natürlich immer die "Mann-Frau-Problematik" an erster Stelle: Frauen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als Männer (das immer noch bestehende niedrigere Regelpensionsalter für Frauen, das heißeste politische Eisen in diesem Land überhaupt, mag demgegenüber grotesk wirken, aber das ist eine andere Frage). Das bedeutet, dass ein Modell des Pensionsantritts, das an die Lebenserwartung gebunden ist, eine direkte Diskriminierung der Frauen bedeutet. Zur Frage der Rechtfertigung eines solchen Modells hat der EuGH in Luxemburg vor wenigen Wochen deutliche Worte gefunden: Die Berechnung (im Anlassfall ging es um eine Entschädigung aus der Unfallversicherung - EuGH 3. 9. 2014, C-318/13 , X gg Finnland, Rz 37 und 38) könne nicht auf der Grundlage der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen vorgenommen werden, weil dies zu einer diskriminierenden Behandlung der Versicherten männlichen Geschlechts gegenüber den Versicherten weiblichen Geschlechts führt.

Nachbemerkung des EuGH: "Im Übrigen steht der Berücksichtigung allgemeiner geschlechtsspezifischer statistischer Daten entgegen, dass nicht sicher ist, dass eine Versicherte immer eine höhere Lebenserwartung hat als ein Versicherter gleichen Alters in einer vergleichbaren Situation."

Dieser Hinweis des EuGH erinnert uns an Michael Marmot und seine oben erwähnten Untersuchungen: Man kann aufgrund dieses Hinweises davon ausgehen, dass die schematische Berücksichtigung der Lebenserwartung bei der Berechnung von Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung diskriminierend und daher unionsrechtlich unzulässig ist. Eine Berücksichtigung der Lebenserwartung dürfte daher von vornherein nicht infrage kommen, und zwar unabhängig davon, ob sie einheitliche ("unisex" ) oder geschlechtsspezifische Sterbetafeln verwendet. Ob auch schon Sterbetafeln existieren, die an den für die Lebenserwartung maßgebenden Unterschieden der sozialen Wirklichkeit der Betroffenen anknüpfen, entzieht sich meiner Kenntnis.

Die Einbeziehung der Lebenserwartung in die individuelle Pensionsberechnung oder für das individuelle Pensionsantrittsalter ist also offenbar nicht der Königsweg. Was soll man daher davon halten?

Mit Travnicek: offen gestanden nichts. (Rudolf Müller, DER STANDARD, 25.11.2014)