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Indische Frauen nach einer Sterilisationsoperation in einem der staatlichen Massensterilisationscamps.

Foto: REUTERS/Anindito Mukherjee

700 bis 1400 Rupien, umgerechnet neun bis 18 Euro, zahlt ihnen der Staat, wenn sie sich die Eileiter durchtrennen lassen. Für die Armen bedeutet das Geld zwei Wochen Essen. Millionen Frauen in Indien lassen sich jedes Jahr sterilisieren. Nun starben 15 Frauen nach einem solchen Eingriff in einem staatlichen Sterilisationscamp. Man hatte ihnen nicht zugelassene Billig-Antibiotika verabreicht, die offenbar mit Rattengift verseucht waren.

Die Tragödie hat die Debatte um Indiens Politik zur Geburtenkontrolle neu angeheizt. Zwar hat sich die Geburtenrate von 5,7 in 1966 auf heute 2,4 Kinder halbiert, aber noch immer wächst die Bevölkerung jeden Monat um weitere 1,2 Millionen Menschen. Als Folge wird Indien laut Prognosen 2030 China überflügeln und zur bevölkerungsreichsten Nation der Welt aufsteigen. Dabei ist der dicht besiedelte Subkontinent bereits heute mit seinen 1,25 Milliarden Einwohnern überfordert.

Mehr als 700 tote Frauen

In vielen Ländern ist Sterilisation die meistgenutzte Verhütungsmethode – noch vor der Antibabypille. Aber nirgendwo werden so vielen Frauen die Eileiter gekappt wie in Indien. 4,6 Millionen Frauen sollen es allein 2012 gewesen sein. Mehr als 700 Frauen starben zwischen 2009 und 2012 an den OP-Folgen.

Indiens Bevölkerungspolitik stützt sich bis heute fast ausschließlich auf Massensterilisationen von ärmeren Frauen – und das, obwohl es längst viele Alternativen gibt. In staatlichen Sterilisationscamps schneiden Ärzte im Vier-Minuten-Takt Eileiter durch. Die meisten Männer scheuen dagegen den Eingriff, obwohl er bei ihnen risikoärmer ist. Viele glauben, dass sie mit der Fruchtbarkeit auch die Manneskraft verlieren.

Historische Gründe

Aber die Aversion hat auch historische Gründe. Als Indira Gandhi in den 70er-Jahren den Notstand ausrief, beschloss die Regierung eine aggressive Kampagne zur Geburtenkontrolle, die bis heute zu den düstersten Kapiteln Indiens zählt. Sechs Millionen Männer wurden binnen zwölf Monaten sterilisiert, viele unter Zwang. Betroffen waren vorrangig Arme, oft riegelte die Polizei ganze Dörfer ab und zerrte die Männer an Händen und Füßen zum OP-Tisch.

Auch wenn Politiker es bestreiten, ist die Grenze zum Zwang bis heute fließend. Ganze Armeen staatlicher Helfer schwärmen aus, um Frauen zu bewegen, sich in den Sterilisationscamps unters Messer zu legen. Frauen werden bedrängt, in Bezug auf die wahren Folgen der Operation getäuscht und mit Prämien gelockt. Auch Ärzte und Gesundheitsbeamte stehen massiv unter Druck. Zwar gibt es offiziell keine Quoten mehr, doch intern existieren weiter Sollvorgaben. Angestellten drohen Lohneinbußen, wenn sie diese nicht erfüllen – oder sie erhalten Bonuszahlungen für jede sterilisierte Frau.

Alternativen im Abseits

Indiens obsessive Bevorzugung von Massensterilisationen hat Alternativen ins Abseits gedrängt: Zwar verhüten heute 48 Prozent aller verheirateten Paare – nach nur 13 Prozent im Jahr 1970. Aber bei 75 Prozent von ihnen geschieht diese Verhütung in Form einer Sterilisation der Frau. Nur drei Prozent greifen dagegen zum Kondom. Andere Methoden wie Antibabypille, Pessar und Spirale spielen kaum eine Rolle. Sie werden tabuisiert, sind auf dem Lande kaum erhältlich und für Ärmere kaum bezahlbar.

Den allermeisten ärmeren Frauen bleibt daher kaum eine andere Wahl, als sich unters Messer zu legen, wollen sie nicht pausenlos schwanger werden. Nur langsam deutet sich in den Städten ein Wandel an. Vor allem die "Pille danach", die seit 2005 frei verkäuflich ist und von den Firmen aggressiv beworben wird, findet große Nachfrage. Viele Frauen missverstehen die "Pille danach" jedoch aus Unkenntnis als reguläre Verhütung, was andere Risiken birgt. Auch Abtreibungen werden recht unkompliziert ausgeführt.

Bildung als Waffe

Das größte Probleme bleibt das erschreckende Unwissen. Mit den britischen Kolonialherren zog auch die Prüderie ein. Sex wird tabuisiert. Die meisten Inder haben keine Ahnung von den verschiedenen Verhütungsoptionen. Die Folge: Rund 50 Prozent aller Paare verhüten überhaupt nicht. In Staaten mit geringem Bildungsstand liegt diese Zahl noch höher. Zwar gibt es an einigen Schulen Aufklärungsunterricht. Doch dieser verdient kaum seinen Namen. Meist beschränkt er sich darauf, den Schülern einzubläuen, dass Sex vor der Ehe unmoralisch ist.

Experten monieren seit langem, dass Indien bei der Geburtenkontrolle auf dem Holzweg sei. Die beste Methode, das Wachstum abzubremsen, sei Bildung. Je informierter die Frauen, desto weniger Kinder bekommen sie. Das zeigt sich etwa im südindischen Bundesstaat Kerala. Dieser hat die höchste Alphabetisierungsrate und eine der niedrigsten Geburtenraten. Eine kurzfristige Lösung ist das aber nicht: Laut Studien wird es Jahrzehnte dauern, bis in Indien alle Frauen lesen und schreiben können. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 26.11.2014)