
Corneo: In Österreich wurde zum Beispiel die Erbschaftssteuer vor Jahren abgeschafft. Meines Erachtens würde Österreich diese Entscheidung rückgängig machen, wenn die Bürger besser informiert wären und ihre Präferenzen sich wirklich in die politische Entscheidung niederschlagen würden
STANDARD: In gewisser Weise hat uns der Kapitalismus diese Krise miteingebrokt. Sie brechen dennoch eine Lanze für das System, schlagen aber einige grundlegende Änderungen vor. Warum halten Sie solche überhaupt für notwendig? Reicht es nicht ganz einfach wieder ein paar Schrauben neu zu justieren und ein paar Reparaturarbeiten vorzunehmen?
Corneo: Es ist sehr schwierig, mit ein paar Reparaturarbeiten zu vermeiden, dass wir allmählich in Richtung eines US-amerikanischen Wirtschaftssystems hinein rutschen. Ich glaube, das entspricht nicht den Präferenzen der überwiegenden Mehrheit der europäischen Bürger. Unsere Schwierigkeiten hängen stark mit folgendem Widerspruch zusammen: einerseits steht die internationale Reichweite der Handelsoptionen der Privatakteure – insbesondere der Unternehmen und der vermögenden Individuen, die Kapital über die Grenzen hinweg zu den Ländern mit den niedrigsten Steuern bewegen können; andererseits steht die nationale Reichweite der Kompetenzen der Regierungen, die sich nicht einigen können und keine koordinierte Steuer- und Verteilungspolitik organisieren können. In dieser Situation sind nennenswerte Fortschritte sehr unwhrscheinlich. Man muss eher Rückschritte befürchten.
STANDARD: Sie sagen, es könnte in eine Richtung gehen, die den Bürgern nicht gefällt. Kann es sein, dass die Ideen der Bürger und der Elite hier auseinandergehen?
Corneo: Seit lange sehen wir keine großen, politischen Projekte der Arbeiterbewegung oder der sozialdemokratischen Parteien für mehr sozialen Fortschritt mehr. Diese Akteure sind trotz aller Warnungen von der Globalisierung letztlich überrascht worden und haben bisher noch kein Alternativprojekt formuliert. In dem dadurch entstehenden kulturellen Vakuum können die Eliten gewichtige politische Entscheidungen beeinflussen. Wir befinden uns in einer postdemokratischen Entwicklung, in der die Wünsche der Bürger nicht genügend bei der politischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
STANDARD: Andrerseits haben gerade jetzt die Bürger soviele Möglichkeiten wie noch nie, ihre Interessen zu formulieren und öffentlich zu machen.
Corneo: Ich glaube, dass wir tatsächlich in einer geschichtlich einmaligen Situation sind. Wir haben einen Ausbildungsgrad in der Bevölkerung, so hoch wie nie zuvor. Wir haben Informationstechnologien, die es uns ermöglichen, unheimlich viele Informationen zu unheimlich geringen Kosten weiter zu geben. Wir haben damit die Möglichkeit, Stoff zum Nachdenken und zum kritischen Überprüfen an jedermann weiterzugeben. Hinsichtlich der Funktionsweise der Demokratie hat unsere Gesellschaft das Potenzial, einen großen Sprung nach vorne zu machen. Es wäre wünschenswert und möglich, den Bürgern mehr Macht zu geben, um einerseits ihren politischen Vertreter besser zu kontrollieren und andererseits wichtige politische Entscheidungen direkt zu treffen.
STANDARD: Sie denken an mehr direkte Demokratie wie in der Schweiz?
Corneo: Ja, einiges können wir von der Schweiz lernen. Eine stärkere Kontrolle der Bürger über die kollektiven Anliegenwäre auch ein wichtiger Schritt, um ökonomische Probleme zu lösen. Mehr direkte Demokratie würde auch mehr Anreize für die Bürger schaffen, sich über kollektive Probleme zu informieren. In Österreich wurde zum Beispiel die Erbschaftssteuer vor Jahren abgeschafft. Meines Erachtens würde Österreich diese Entscheidung rückgängig machen, wenn die Bürger besser informiert wären und ihre Präferenzen sich wirklich in die politische Entscheidung niederschlagen würden.
STANDARD: In Österreich sind die Gegner einer Wiederbelebung einer solchen Steuer vehement mit dem Argument angetreten, dass davon jeder kleine Häuschenbesitzer betroffen wäre.
Corneo: Das ist aber eine extrem einseitige Sicht der Dinge, weil man hohe Freibeträge einführen kann. In Deutschland haben wir Freibeträge in einer Größenordnung von 500.000 Euro, in den USA von fünf Millionen Dollar. Dank solcher Freibeträge werden nur die Superreiche ernsthaft belastet.
STANDARD: Weil wir schon bei den Steuern sind. Was halten Sie von der heiß diskutierten Vermögensabgabe?
Corneo: Ich glaube, dass es in Deutschland besser wäre, eine moderate Erhöhung der existierenden Kapitalsteuern durchzuführen. Illusionen darf man sich allerdings nicht machen, weil die Anreizwirkungen der Kapitalsteuern in einer offenen Volkswirtschaft mit freiem Kapitalverkehr erheblich sind. Es gibt für Deutschland zwei Kapitalsteuern, die für mehr Steueraufkommens und für eine verbesserte Verteilung sorgen könnten. Erstens die Erbschaftssteuer. Derzeit funktioniert sie schlecht, weil die Betriebsvermögen faktisch freigestellt werden und also nicht gleich behandelt werden wie die anderen Aktiva, die geerbt werden. Das führt zu einer Verletzung der horizontalen Gerechtigkeit, zu regressiven Auswirkungen und zu massiven Aufkommensverlusten. Zweitens die Grundsteuer. Auch hier haben wir ein Problem der sozialen Gerechtigkeit, weil die Bewertung der Immobilien immer noch nicht nach den Marktwerten erfolgt, sondern nach Einheitswerten, die teilweise sehr veraltet sind. Wenn die Werte der Immobilien so verzerrt sind, kann man auch keine vernünftigen Steuersätze verlangen, weil die Leute dann sofort zu recht protestieren würden.
STANDARD: Sie haben das Wort Verteilungsgerechtigkeit in den Mund genommen. Wird das Thema Ungleichheit und mögliche Folgen richtig eingeschätzt?
Corneo: Das Thema wird sehr wohl wahrgenommen und das nicht nur in Europa. Ich war jüngst in China. Auch dort ist Ungleichheit eines der wichtigsten ökonomischen Themen. Das Problem ist, dass es wenige Ideen gibt, wie man dieses Problem lösen könnte. Selbst in dem Buch von Piketty werden Vorschläge gemacht, die er selbst als Utopie bezeichnet und die tatsächlich wenig hilfreich sind, wie zum Beispiel eine persönliche progressive Vermögenssteuer, die international erhoben werden sollte. Das ist politisch nicht durchführbar und hätte auch problematische ökonomische Auswirkungen.
STANDARD: Das führt uns zu Ihrer Idee. Sie machen sich Gedanken, wie man jenseits der Steuerpolitik zu einer gerechteren Verteilung kommen kann. Sie schlagen einen Aktienmarktsozialismus vor, indem der Staat Haupteigentümer jedes börsenotierten Unternehmens wäre. Wenn wir jetzt an Staatsbetriebe denken, fallen den meisten wahrscheinlich zuallererst mit Steuergeldern gerettete Banken ein.
Corneo: Nicht nur aus taktischen, sondern auch aus sachlichen Gründen sollten wir eine mehrstufige Herangehensweise wählen. Meine Idee ist, dass wir zunächst einmal einen Sovereign Wealth Fund, also einen Staatsfonds gründen sollten. Das wäre ein öffentliches Finanzvehikel, Norwegen hat so etwas zum Beispiel.
STANDARD: Wobei die Norweger sich sehr leicht tun, diesen Fonds aus Mitteln ihres Ölreichtums zu speisen.
Corneo: Ja. Aber genauso wie die Norweger ihre Öl- und Gasvorräte benützt haben , können Länder wie Deutschland oder Österreich eine Ressource nützen, die ihnen das gleiche Resultat ermöglichen würde: ihre erstklassige Bonität am Weltkapitalmarkt. Das ermöglicht ihnen, sich sehr günstig zu verschulden und einen vergleichsweise großen Kapitalstock aufzubauen. Mit diesem Kapital könnten sie weltweit Aktien kaufen und damit eben über einen Staatsfonds verfügen, der in Aktien investiert.
STANDARD: Können wir den Staaten als öffentliche Verwalter von Finanzkapital vertrauen? Manche erwiesen sich in der Krise ja nicht gerade als geschickt und manche als heillos verschuldet.
Corneo: Ein solcher Fonds würde gerade dazu dienen, ein substantielles Vermögenseinkommen für den Staat zu erzielen. Wenn der Zinssatz für deutsche Staatsanleihe bei ein Prozent und die Rendite von Aktien langfristig bei etwa zehn Prozent liegt, ergibt sich eine genannte Risikoprämie von neun Prozent. Damit können die Refinanzierungskosten für diese Neuverschuldung locker durch die Kapitalrendite aus den Aktienanlagen gedeckt werden. Die Differenz zwischen der Aktienrendite und den Refinanzierungskosten des Staates kann vorrangig benützt werden, um die Neuverschuldung für die Errichtung des Staatsfonds zu tilgen. Innerhalb von etwa 15 Jahren wäre also die Neuverschuldung für den Aufbau zurückgezahlt worden und das Gemeinwesen würde über ein kollektives Aktienvermögen verfügen, aus dem eine soziale Dividende an alle Bürger finanziert werden kann. Für Österreich würden die gleichen Koordinaten gelten.
STANDARD: Und dann übernimmt der Staat die Unternehmen? Das klingt ein bisschen nach Planwirtschaft.
Corneo: In dieser ersten Stufe wäre das öffentliche Eigentum nur das Instrument eines kollektiven Rentiers. Nach einigen Jahren könnte man auf der Basis der Erfahrung mit dem Staatsfonds bestimmte Unternehmen auswählen und die Kontrolle über sie übernehmen. Diese Unternehmen würde man dann einer neuen Institution übergeben, die ich einen Bundesaktionär nenne. Das wäre ähnlich wie die Deutsche Bundesbank eine von der Regierung unabhängige Institution. Sie hätte die Aufgabe, langfristig diese Unternehmen rentabel zu steuern.
STANDARD: Aber was, wenn diese Unternehmen da gar nicht mitmachen wollen?
Corneo: Die Übernahme der Unternehmen würde genau wie heute erfolgen. Nämlich über den Markt. Auch beim Staatsfonds muss der Staat Aktienpakete kaufen. Das erfolgt freiwillig ohne irgendwelche Enteignungen oder Zwangsmaßnahmen. Wichtig für die Anreize ist aber, dass eine Minderheit des Kapitals der Firmen – zum Beispiel 25 Prozent - weiterhin in privatem Besitz bleibt.
STANDARD: Der Markt muss also weiterhin für Effizienz sorgen?
Corneo: Ja. Die Idee ist, dass man einen fairen Wettbewerb zwischen kapitalistischen und öffentlich-demokratischen Unternehmen hätte. Dann würde man durch einen Effizienzvergleich sehen, ob die Unternehmen in öffentlicher Hand besser oder schlechter wirtschaften als die privaten. Die unterschiedliche Rentabilität der zwei Gruppen bedingt auch, welche Gruppe sich anteilsmäßig stärker entwickelt. Jene, die rentabler arbeitet, würde mehr Ressourcen haben, um zu expandieren. Damit würde ihr Anteil steigen und die andere Gruppe würde anteilsmäßig schrumpfen. Wenn sich die öffentlich-demokratische Steuerung als überlegen erweist, würde man allmählich zu einem aktienbasierten Marktsozialismus kommen.
STANDARD: Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, hat zwei Wesensmerkmale: Marktwirtschaft und das Privateigentum an Produktionsmitteln. In Ihrem Modell bleibt Ersteres erhalten, Letzteres hingegen wird zwar nicht völlig abgeschafft, aber doch stark beschnitten. Gerade Privateigentum ist ja nun eine große Triebfeder für Fortschritte und Innovation. Wäre dieser Antrieb nicht damit verloren?
Corneo: Ich glaube, dass wir tatsächlich die unternehmerische Privatinitiative erhalten sollten. Das Unternehmertum sorgt dafür, dass sehr gewagte Projekte durchgeführt werden. Einzelunternehmen agieren oft ein wenig verrückt und übernehmen Risiken, die Großunternehmen scheuen. Von tausenden Versuchen gibt es dann tatsächlich einen, der etwas einführt, was für die Gesellschaft extrem vorteilhaft ist. Wegen ihrer Innovationsneigung sollten Unternehmer auch im Marktsozialismus weiterhin existieren. Die Frage des Eigentums stellt sich nur für die Großunternehmen.
STANDARD: Wir verbinden mit Staatsbetrieben ja noch andere Erinnerungen. Etwa, dass sehr lange notwendige Anpassungen wie Stellenstreichungen nicht vorgenommen werden trotz dauerhafter Verluste. Was passiert mit solchen Unternehmen?
Corneo: Die Idee des aktienbasierten Marktsozialismus ist genau die Antwort auf diese Frage. Durch die Existenz eines Aktienmarktes mit öffentlichem Eigentum werden genau die Anreize geschaffen, langfristig gewinnmaximierend zu handeln. Damit müssen auch unrentable Unternehmen im Aktienmarktsozialismus dichtgemacht werden. Die Eigentümer – besonders die privaten - haben kein Interesse, Unternehmen am Leben zu erhalten, die Verluste erwirtschaften. Das wird erreicht, indem einerseits die Vertreter des Bundesaktionärs in den Aufsichtsräten die Aufgabe erhalten, die langfristigen Gewinneinkommen zu maximieren. Die fließen dann in den öffentlichen Haushalt. Andererseits befindet sich die Minderheit des Kapitals weiterhin in privatem Eigentum. Und die Privataktionäre üben Druck auf die Unternehmen aus, langfristige Entscheidungen im Sinne der Rentabilität zu treffen.
STANDARD: Wir haben in Österreich eine Staatsholding und damit gewisse Erfahrungen mit politischer Einflussnahme. So einen Bundesaktionär apolitisch zu halten, ist vermutlich auch keine einfache Sache?
Corneo: Das ist tatsächlich die große Herausforderung. Wenn die Politik es schafft, sich doch in die alltäglichen Entscheidungen einer solchen Institution hineinzuschmuggeln, würde man wieder das Problem haben, dass wirtschaftliche Entscheidungen auf der Basis von politischem Kalkül getroffen werden. Deswegen ist der institutionelle Aufbau der Institution ganz wichtig. Da bin ich aber eher optimistisch, weil wir zum Beispiel im Falle der Bundesbank in Deutschland gesehen haben, dass es möglich ist, eine Institution mit einer klaren Mission zu haben, die diese trotz mancher Konflikte mit der Regierung auch erfüllt.
STANDARD: Sie sind Professor für öffentliche Finanzen an der Freien Universität Berlin und sie definieren sich selbst als Neoklassiker, als Anhänger jener Theorie also, die – häufig mit abschätzigem Unterton – auch als neoliberale bezeichnet wird. Sie glauben auch an das von Eigeninteressen geleitete Individuum, und sind überzeugt von der Effizienz des Marktprinzips. Wie kommt der Aktienmarktsozialismus bei den Kollegen und Kolleginnen an?
Corneo: Vor allem von Studenten und jüngeren Menschen bekomme ich sehr positive Resonanz. Auch bei den eher theoretisch orientierten Ökonomen wird mein Vorschlag sehr gut angenommen. Es gibt ja eine alte Tradition in der Neoklassik, die diese Anliegen von Freiheit und Markt mit den Anliegen von Gleichheit und Chancengerechtigkeit verbindet. Bei den praktischen, wirtschaftspolitisch orientierten Ökonomen muss ich glaube ich noch mehr Überzeugungsarbeit leisten. Die sind gewohnt, sofort mit den Restriktionen der Alltagspolitik zu arbeiten und sagen, ja aber wir haben die Schuldenbremse, das können wir nicht, das dürfen wir nicht.
STANDARD: Aber Sie hielten das schon so richtig in der Praxis für vorstellbar?
Corneo: Ja. Ich glaube wirklich, dass das ein realistischer Weg ist, der langfristig eine erhebliche Qualitätsverbesserung in Wirtschaft und Gesellschaft herbeiführen würde. (Regina Bruckner, STANDARD, 6./7.12.2014)