Oskar Schlemmers berühmte Figurinen zum "Triadischen Ballett" (1922): Der Künstler steht im Bann des Kubismus und schiebt die Menschen wie Schachfiguren durch stumme Räume.

Foto: Kittelberger

Was tun, wenn alle Asse gleich zu Beginn auf den Tisch gelegt werden? Wie reagieren, wenn in der Staatsgalerie Stuttgart Ina Conzen, die Kuratorin der Schau Oskar Schlemmer - Visionen einer neuen Welt, ins Entree der Sonderausstellungshalle acht Hauptwerke hängt, zugleich die acht besten Gemälde Oskar Schlemmers? Antwort: dort lange ausharren. Allein die großartige Bauhaustreppe von 1932 ist seit Jahrzehnten erstmals wieder in Europa zu sehen.

Was zudem dahintersteckt, zeigt der Rundgang durch neun im Uhrzeigersinn angeordnete Kabinette mit 270 Exponaten. Denn die Themen Mensch und Maschine, Mensch im Raum, Figur und Raumtiefe, Dynamik und Architektur, Tanz, Analyse und Mythos führen eben diese Auftaktbilder vor, Der Tänzer und Paracelsus, Frauenschule und Konzentrische Gruppe, Sitzender Homo, Fünf Akte und Frauengruppe. Summe eines Künstlerlebens, das im September 1888 in Stuttgart seinen Anfang nahm und im April 1943 in Baden-Baden sein Ende fand.

Die chronologische Hängung auf etwas langweiligen hellgrauen Wänden ist naheliegend bei einem so analytisch vorgehenden Künstler wie Oskar Schlemmer. Denn bei ihm lassen sich die einzelnen Werkphasen schön säuberlich voneinander trennen. Als Student an der Stuttgarter Kunstakademie von 1910 bis 1914 war er ein von Cézanne inspirierter Landschaftsmaler. Dann, im Krieg, entdeckte er den Kubismus.

Anschließend von 1920, dem Jahr, in dem er ans Bauhaus in Weimar als Meister der Klasse für Wandmalerei berufen wurde, bis 1925: eine breit dokumentierte Phase der malerischen Befreiung von der Zersplitterung der Menschendarstellung hin zu einer Synthese von Mensch und Maschine, von Berechnung und Stilisierung, bei der Menschen wie Schachfiguren in stumme Räume geschoben werden.

Körper und Ekstase

Infolge der Übernahme einer Professur an der Kunstakademie Breslau erfolgte eine künstlerische Explosion. In Geländer- und Treppenszenen spielte er das Verhältnis von Mensch und Raum, Mensch im Raum, Meditation, Mystik und Farbe durch. 1931/32 die barocke Wendung: Die Körper wurden voller, es gab Ekstase.

1933 wurde ihm fristlos gekündigt. Die letzten zwei Sektionen sind diesem Bruch gewidmet. Was hier gezeigt wird, ist kaum bekannt. Schlemmer, 50 Jahre alt und Vater dreier Kinder, war arbeitslos und bar jeder Perspektive. Zwei Jahre lang malte er gar nicht, zog in die Nähe des Schwarzwalds. Ausstellungen wurden geschlossen, er galt als "entartet". Schließlich verdingte er sich in einem Malergeschäft, kam dann im Labor eines Lackfabrikanten in Wuppertal unter. Mit 54 Jahren starb er.

Die Arbeiten der letzten Jahre zeigen deutlich, wie sehr er den Boden unter den Füßen verlor. Er schwankt zwischen Neoidylle und Rückzug, zwischen dem Versuch, das modernistische Repertoire antimodern durchzudeklinieren, und lieblicher Neuer Sachlichkeit, wobei das schmale Hochformat Beim Tarnen des Gaskessels von 1942 wie ein Vorläufer Neo Rauchs anmutet. Doch die Beschwärmung als Großer angesichts zu vielen Tastens und Ausprobierens ist hier fehl am Platz.

Und dann geht man eine Stiege in dem vom Postmodernen James Stirling vor 30 Jahren erbauten Museum hinauf und muss erkennen, wie wenig dieses Gebäude heutigen Ansprüchen genügt. Denn acht große, hohe Säle der Dauerausstellung, unterbrochen von einer Beuys-Rauminstallation, sind leergeräumt für Schlemmer als Schöpfer des Gesamtkunstwerks Triadisches Ballett und für Schlemmer, den Wandmaler. Vier Säle allein sind den drei Fassungen eines Zyklus von Wandbildern vorbehalten, die er zwischen 1929 und 1932 für das Folkwang-Museum Essen schuf.

So geschlossen das Bild vom in den letzten Jahren infolge hartleibiger Erben fast verschollenen Oskar Schlemmer ist, das man sich im Erdgeschoß hat machen können, so überdimensioniert sind die raumgreifenden Arbeiten im Obergeschoß. An ihrem Ehrgeiz, ihn derart umfassend wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr zu zeigen, krankt diese Retrospektive. So führt sie die Schwankungen im Werk Schlemmers schmerzhafter als nötig vor. Zum anderen verzichtet sie bei diesem literarisch Gebildeten auf alle Querbezüge. (Alexander Kluy aus Stuttgart, DER STANDARD, 26.11.2014)