
Pressefotos des letzten Jahres, durch überdimensionale Blutgefäße verbunden: Die russische Truppe Chto delat verarbeitet und recycelt in ihren Arbeiten zeithistorische Positionen.
Wien - Mit einer holprig inszenierten Kritik an übertriebenen 300-Jahr-Feiern ihrer Heimatstadt hatte 2003 alles begonnen: Mit Plakaten wie "Ich verlasse St. Petersburg" oder "Petersburg von null starten" waren die Künstler einen Bahnsteig entlanggelaufen und hatten sich schließlich in einen abfahrenden Zug geflüchtet. Sie hätten sich damals jedoch kaum träumen lassen, zu den wohl wichtigsten künstlerischen Chronisten jener Entwicklungen in Russland zu avancieren, die im Europa des Jahres 2014 Krieg wieder möglich erscheinen lassen.
In ihrer großangelegten Ausstellung Zeitkapsel. Künstlerische Berichte über Katastrophe und Utopie in der Wiener Secession versammelt das nunmehr auch international erfolgreiche Kollektiv Chto Delat nahezu sein gesamtes OEuvre. Waren es anfänglich einfache Dokus gewesen, begann das Kollektiv um die Performancekünstlerin Olga Jegorowa, den Bühnenbildner Nikolaj Olejnikow, die Philosophin Oksana Timofejewa sowie den Fotografen und Theoretiker Dmitri Wilenski später, sich mit Rauminstallationen zu beschäftigen. Parallel wurden Filme produziert, die sich nicht nur durch ihre inhaltliche Schärfe, sondern auch durch zunehmenden handwerklichen Professionalismus auszeichneten.
Chto Delat, auszusprechen "schto delat" ("Was tun"), lässt sich auf den gesellschaftskritischen Roman Was tun? von Nikolai Tschernyschewski (1863) sowie auf die gleichnamige programmatische Schrift Wladimir Lenins (1902) beziehen. Der spätere Revolutionsführer hatte darin betont, dass der Arbeiterschaft ein sozialdemokratisches Bewusstsein fehle und dieses nur von außen kommen könne.
In einem der gezeigten Videos erklärt Künstler Olejnikow, dass man über die Kunstgeschichte in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen wolle. Da ist ein gehöriges Stück Augenzwinkern dabei - aber es gibt einen realen Hintergrund: Während die Linke in Russlands Politik völlig bedeutungslos ist, gelten linke Ideen gerade in der russischen Kunstszene als äußert schick. Chto Delat darf hier als eine Art Speerspitze gelten. Mit einer gleichnamigen Zeitung, die zu jeder Ausstellung erscheint, unterstreicht die Gruppe einen theoretischen Anspruch, gleichzeitig recycelt sie reichhaltig aus dem linken Erbe.
Perestroika und Gasprom
Bei Kurt Weill und Bertolt Brecht entlehnte man das Genre des Songspiels, das in Österreich an die Proletenpassion der Politrocker Schmetterlinge erinnert. Die Wiener Schau präsentiert zahlreiche Songspielvideos. Sie zeichnen sich durch ihre kurzweilige Gesellschaftskritik aus und beschäftigen sich etwa mit der Perestroika, mit Protesten gegen die Errichtung eines Gasprom-Wolkenkratzers in St. Petersburg oder mit Problemen binationaler Familien in Norwegen.
Im Zentrum der Schau stehen jedoch Arbeiten, die auf Erschütterungen des Jahres 2014 reagieren. Gleich hinter dem Eingang in den Hauptraum haben die Künstler eine bühnenartige Landschaft aus vergrößerten Pressefotos aufgebaut, die zentrale Sujets der letzten Monate zeigen - Ebola-Kranke, tanzende Aktivisten auf dem Kiewer Maidan, gestürzte Denkmäler und Kriegshandlungen in der Ukraine. Verbunden sind diese Tableaus mit knallroten Strängen, die wie Tentakel oder überdimensionale Blutgefäße anmuten.
Aber auch die "Zeitkapsel" aus dem Ausstellungstitel findet sich hier - sie ist in einem überdimensionalen Hybrid aus Herz und Ohr versteckt, die Künstler kündigen ihre Öffnung für bessere Zeiten an. In der sowjetischen Jugendbewegung Komsomol war es üblich, geheim Botschaften an die Jugend der Zukunft zu richten und diese bis zu einem konkreten Sperrdatum einzumauern.
Die Filminstallation Ausgeschlossene. Im Moment der Gefahr, die im hinteren Teil des Hauptraumes projiziert wird, darf als Höhepunkt der Schau gelten. Die Arbeit, die mit Studierenden der "Schule der involvierten Kunst" entstand, ist eine der eindrucksvollsten Bestandsaufnahmen des aktuellen Russlands. In zwölf halbfiktiven Episoden auf vier Videokanälen berichten Vertreter jener kritischen russischen Facebook-Generation, die dezidiert die Annexion der Krim verurteilen, vom Gefühl einer wachsenden Isolation. Eine einsame Demonstrantin, so wird erzählt, sei wegen des Plakats "Russland tötet" verprügelt worden. Die Protagonisten des Films spekulieren über die Täter. Und es stellt sich heraus, dass derzeit nahezu die ganze Bevölkerung dafür infrage kommt. (Herwig Höller, DER STANDARD, 26.11.2014)