Sie steuern fast das gesamte Leben: aus Proteinen zusammengesetzte Enzyme, Muskelfasern oder Hormone. Kürzlich haben Forscher die ersten Landkarten dieser vielfältigen Eiweißgebilde entworfen. Sie könnten den Weg durch das biochemische Dickicht des Körpers weisen.

Illustration: H. Hahne / TUM, BioJS

Zwei Forscher, eine Mission: Akhilesh Pandey von der Johns Hopkins Universität (li.) und Bernhard Küster von der TU München.

Fotos: Pichler/CeMM

Wien - Man konnte zu Recht von einem Durchbruch sprechen. Im vergangenen Frühling präsentierten zwei wissenschaftliche Arbeitsgruppen unabhängig voneinander die ersten Kartierungen des Proteoms von Homo sapiens. Es sind Übersichten über alle Proteine, die im menschlichen Körper produziert werden. In Deutschland ist dieses Kunststück einem Team unter Leitung von Bernhard Küster von der Technischen Universität München gelungen. Praktisch gleichzeitig legten Akhilesh Pandey von der Johns Hopkins University in Baltimore und seine internationale Expertentruppe ihre Ergebnisse der Fachwelt vor. Beide Studien wurden im Magazin Nature veröffentlicht. Sie öffnen die Tür zu neuen Forschungsmöglichkeiten.

Pandey und Küster waren am Montag am Wiener Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) zu Gast, wo sie Einblick in ihre Arbeiten boten. Lange wusste man nicht, wie die Vielfalt der Eiweißmoleküle überhaupt erfasst werden könne. "Das menschliche Proteom ist so wandlungsfähig", sagt CeMM-Leiter Giulio Superti-Furga. Je nach Individuum, Zelltyp oder vorherrschenden Umwelteinflüssen können andere Proteinstrukturen auftreten. Ein wahres biochemisches Dickicht.

Formenreichtum

Wie kommt dieser Formenreichtum zustande? Dazu ein kurzer Rückblick ins Biologie-Schulbuch: Das Erbgut praktisch aller Lebewesen besteht bekanntlich aus DNA-Strängen. Sie werden bei Bedarf von Spezialmolekülen abgelesen und der Code dabei in RNA-Ketten umgesetzt. Diesen Prozess bezeichnet man als Transkription. Anschließend dienen die Abschriften, mRNA genannt, als Vorlage für die Translation, die Produktion von Aminosäurenketten. Letztere, die Polypeptide, sind die Bauelemente riesiger Proteinmoleküle. Ob Enzyme, Muskelfasern oder Hormone - fast das gesamte Leben wird durch solche Eiweißgebilde gesteuert.

Die Basis der Proteom-Kartierung bildet die Massenspektrometrie. Mit ihrer Hilfe lassen sich die einzelnen Peptide von zuvor zerlegten Proteinen exakt nach ihrer Größe identifizieren. Anschließend können die Gesamtmoleküle im Computer rekonstruiert werden. Bernhard Küster und seine Kollegen haben so über 18.000 verschiedene Proteintypen nachgewiesen. Die von Akhilesh Pandey geleitete Arbeitsgruppe kommt auf gut 17.000 Formen.

Beide Zahlen kommen nah an die insgesamt rund 20.000 Gene heran, über die das menschliche Erbgut verfügt. Das gesamte Proteom dürfte allerdings noch viel größer sein, betont Giulio Superti-Furga. Aus einem einzigen Gen-Transkript lassen sich schließlich durch unterschiedliche Weiterverarbeitung der mRNA und der Polypeptide mehrere verschiedene Proteine anfertigen.

Küsters Team stieß bei seinen Analysen auf einige besondere Überraschungen. Insgesamt 430 der nachgewiesenen Peptidkonstrukte lassen sich keinem bereits registrierten Gen zuordnen. Stattdessen scheinen die meisten das Produkt von sogenannten linc-RNAs zu sein - langen RNA-Ketten, die zwar auch bei der regulären DNA-Transkription entstehen, denen aber bislang keine codierende Funktion zugeschrieben wurde. Sie werden schlichtweg nicht oder kaum translatiert, so glaubte man. Eine Art biologisches Hintergrundrauschen.

Der Wissenschaft sind inzwischen mehr als 20.000 solcher Geister-RNAs bekannt. Doch warum würden Zellen zumindest einige hundert dieser angeblich nutzlosen Sequenzen in Proteine umsetzen, auf Kosten wertvoller Ressourcen? "Möglicherweise schauen wir hier gerade dem Evolutionsprozess zu", meint Küster.

Es sei denkbar, dass diese Peptidkonstrukte gerade dabei sind, eine biologische Funktion zu erwerben. Ihre Produktion mag zunächst das Ergebnis von reinem Zufall oder einer harmlosen Störung gewesen sein. Wenn sich das neue Protein allerdings irgendwo im komplexen Zusammenspiel der Moleküle als nützlich erweist, unterliegt es sofort der positiven Selektion und kann sich weiterentwickeln. Das Basisprinzip der Evolution.

Die Proteomkartierung ist allerdings nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung hochinteressant. Auch der medizinische Nutzen wird enorm sein. Bei weiteren Untersuchungen nahmen die deutschen Experten die Proteome von 27 verschiedenen menschlichen Gewebetypen und Körperflüssigkeiten genauer unter die Lupe. Das Ziel war ein funktioneller Vergleich auf Basis der auftretenden Proteintypen. Im Ergebnis zeigt sich unter anderem Beta-Catenin auffällig. "Das ist eines der Proteine, die bei der Embryonalentwicklung ganz wichtig sind", sagt Bernhard Küster.

Beta-Catenin hat eine doppelte Funktion. Einerseits spielt es bei der Bindung zwischen Zellen untereinander und somit beim Aufbau von Geweben eine tragende Rolle. Gleichzeitig kommt es in der Steuerung des Transkriptionsprozesses zum Einsatz. Mit anderen Worten: Wo starkes Wachstum auftritt und reichlich Protein synthetisiert wird, muss viel Beta-Catenin aktiv sein. Andernorts jedoch sollte seine Wirkung gezügelt bleiben - sonst drohen physiologische Entgleisungen.

Krebswachstum ausschalten

Im Proteom von Dickdarmkrebszellen fanden die Wissenschafter sehr große Mengen Beta-Catenin. Das ist nicht wirklich überraschend, wie Küster erläutert. In Tumoren wird die Produktion von diversen wachstumsfördernden Proteinen oft wieder hochgefahren. Sie beschleunigen das Wuchern. Wenn es allerdings gelänge, die gefährlichen Eiweißmoleküle rechtzeitig auszuschalten, ließen sich solche fatalen Kettenreaktionen wahrscheinlich unterbrechen.

Ein weiteres interessantes Detail der deutschen Studie ist das bemerkenswert konstante Verhältnis zwischen mRNA-Konzentrationen und Proteinproduktion. Beide sind je nach Gewebetyp zwar stark unterschiedlich ausgeprägt, doch ihre relativen Mengen bleiben praktisch gleich. Die Translationsrate ist offenbar in allen Körperregionen konstant, erklärt Küster. Man könne nun auf Basis von mRNA-Messungen vorhersagen, wie viele Proteine es in einer Zelle gibt.

"Wir werden diese Informationen nutzen, um zu verstehen, wie der Transport von Medikamenten im menschlichen Körper abläuft und wie ihre Wirkungsweise ist", sagt Giulio Superti-Furga. Erste Schritte auf diesem Weg sind bereits gelungen. Vor wenigen Wochen veröffentlichte der CeMM-Forscher in einer Online-Vorabveröffentlichung von Nature zusammen mit Kollegen eine detaillierte Beschreibung davon, wie eine modifizierte Variante des Präparats Crizotinib in die DNA-Reparatur von Krebszellen eingreift. In seiner normalen Form zeigt es diese Wirkung nicht.

Eine proteomische Analyse führte die Wissenschafter auf die Spur. Demnach ist es ein spezielles Enzym, MTH1, welches die Bereitstellung von DNA-Bausteinen reguliert. Seine Struktur bietet dem modifizierten Crizotinib eine Angriffsstelle. MTH1 wird inaktiviert und die Erbgutreparatur wieder hochgefahren. Potenziell lassen sich so krebserregende Mutationen beseitigen. Weitere Untersuchungen werden folgen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 26.11.2014)