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Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wie Spanien würde das Abkommen TTIP schaden, sagt Brad DeLong.

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Mexikanische Maisbauern gehören zu den Verlierern von Nafta, dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen, sagt der Ökonom. Er hält nachteilige wirtschaftliche Effekt für Europa bei TTIP für wahrscheinlich.

Wien - Weil die europäische Wirtschaft nicht rund laufe und viele Menschen keine Jobs hätten, habe das Freihandelsabkommen TTIP wohl negative wirtschaftliche Auswirkungen auf die Region. Das sagt der Ökonom und ehemalige US-Vizefinanzminister unter Präsident Bill Clinton, Brad DeLong, im Interview mit dem STANDARD. Nur wenn Vollbeschäftigung herrsche, habe ein Abkommen positive wirtschaftliche Effekte, weil dann Jobs, die verschwinden, rasch durch neue Arbeitsplätze ersetzt würden. Er hält das Abkommen aus geopolitischen Gründen trotzdem für sinnvoll.

DeLong forscht an der University of California in Berkeley und war in den 1990er-Jahren für die US-Regierung für die Uruguay-Welthandelsrunde zuständig und hat am nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta mitgearbeitet, dessen Auswirkungen er heute ebenfalls als negativ einschätzt. Die Ansichten DeLongs deckten sich bis vor der Krise mit den meisten Mainstream-Ökonomen, heute bezeichnet er sich selbst als linken Neoliberalen. Er hält die steigende Ungleichheit in den USA für bedenklich und ökonomisch schädlich und schlägt vor, zu groß werdende Banken zuerst zu verstaatlichen und dann aufzulösen. DeLong ist ein aktiver Blogger.

Der US-Ökonom Brad DeLong, der sich selbst als neoliberal bezeichnet, hält die steigende Ungleichheit in den USA für bedenklich.
Foto: University of California, Berkeley

STANDARD: Unter Freihandelabkommen leiden meist Niedrigverdiener, die sich neue Jobs suchen müssen. Können sich die USA weitere Abkommen unter diesem Gesichtspunkt überhaupt leisten? Untere Einkommen sind schon jetzt sehr unter Druck.

DeLong: Die USA haben bei Nafta Ressourcen und Jobs sehr gut umgeschichtet, zumindest solange Clinton Präsident war. Ich glaube nicht, dass man grundsätzlich für oder gegen Freihandelsabkommen sein kann. Man muss auf jeden einzelnen Fall schauen.

STANDARD: Bei Nafta sind jedenfalls schlecht bezahlte Jobs in den USA weggefallen.

DeLong: Jobs sind von den USA nach Mexiko gewandert. Weil in den USA damals Vollbeschäftigung geherrscht hat, haben die Leute aber schnell neue, bessere Jobs gefunden. Gleichzeitig konnten die US-Amerikaner billigere Produkte kaufen. Mexiko hat aber nicht nur profitiert. Reiche Mexikaner haben ihr Geld in die USA gebracht, es war also weniger Kapital da, um Mexiko zu entwickeln. Das führte zu einem Rückgang von Investitionen vor Ort.

STANDARD: Umstritten sind auch die Auswirkungen auf die mexikanische Landwirtschaft.

DeLong: Mais, der in den USA in Iowa angebaut wird, wurde explizit von Nafta ausgenommen. Kleine mexikanische Bauern können nicht mit den US-Betrieben mithalten. Die mexikanische Regierung hat aber beschlossen, den Handel trotzdem frei laufen zu lassen, damit der Preis von Tortillas in Mexiko sinkt und sie selbst beliebter wird. Arme Bauern wurden dadurch aber geschädigt. Die Regierung hat also beschlossen, die Ungleichheit in Mexiko zu steigern. Außerdem sind umweltschädliche Aktivitäten von den USA nach Mexiko gewandert – entweder weil Mexiko laschere Gesetze hat oder weil Inspektoren leichter zu bestechen sind. Die USA haben davon profitiert, die Welt nicht.

Nafta hat für Mexiko und die USA Vor- und Nachteile, sagt Brad DeLong und zeichnet seine Argumentation auf. Mexiko hat davon profitiert, dass US-Unternehmen ihre Produktion Richtung Süden verlagerten. Gleichzeitig sei wegen des politischen Risikos in Mexiko Kapital nach Norden gewandert. Mexikanische Bauern gehören laut DeLong zu den Verlierern, genauso wie die Umwelt.

STANDARD: Hat Mexiko am Ende profitiert? Mittlerweile hat das Land eine respektable Industrie aufgebaut.

DeLong: Wenn man für Nafta alles zusammenzählt, war es für Mexiko wegen der Kapitalströmen und Iowa in Summe ein Minus; die USA haben nicht profitiert, wurden aber auch nicht geschädigt. Für Mexiko wäre es sicher besser gewesen, die Energie in ein eigenes Investitions- und Bildungsprogramm zu stecken, anstatt sich über Nafta der Weltwirtschaft anzuschließen. Das ist aber nur ein Abkommen, das sich als schlecht herausgestellt hat.

STANDARD: Was erwarten Sie von TTIP?

DeLong: Am Ende war das Hauptargument für Nafta, dass die USA ein extrem starkes Interesse an einer politischen Stabilisierung und Demokratisierung Mexikos hatten. Nafta sollte Mexikos Chancen dabei erhöhen. Im Nachhinein ist das kein falsches Argument, es hat sich aber als irrelevant herausgestellt. Mexiko geht unabhängig von Nafta seinen eigenen politischen Weg.

STANDARD: Und TTIP?

DeLong: TTIP könnte wirklich einen Unterschied ausmachen, was die Zivilbevölkerung und die Demokratisierung betrifft. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Nordatlantik einige zusätzliche Schritte setzen muss, um für wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung außerhalb der Region zu sorgen. Bevor ich mich gegen TTIP ausspreche, frage ich mich, was die Alternative ist.

STANDARD: Wie soll TTIP da helfen?

DeLong: Es ist eines der Ziele von TTIP.

STANDARD: Sie meinen das Setzen globaler Standards für den Welthandel?

DeLong: Ja.

STANDARD: Abseits der Geopolitik: Welche wirtschaftlichen Auswirkungen erwarten Sie von TTIP?

DeLong: Sie sind wahrscheinlich gering und nachteilig. Wenn sie nachteilig für die USA und Europa sind, sind sie wahrscheinlich vorteilhaft für die Länder außerhalb des Abkommens. Und die sind beträchtlich ärmer.

STANDARD: Wieso nachteilig? Ökonomen streiten über vieles; dass freier Handel zwischen reichen Ländern gut ist, ist aber fast unumstritten. Die EU-Kommission rechnet mit vielen zusätzlichen Jobs.

DeLong: Wenn man Vollbeschäftigung hat, ist dieses Argument großteils richtig. Wir haben aber keine Vollbeschäftigung und werden sie auch in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich nicht haben.

STANDARD: Die USA auch nicht?

DeLong: Ich weiß es nicht, das ist nicht ganz klar. Wenn es keine Vollbeschäftigung gibt, funktioniert jedenfalls die Reallokation von Ressourcen in einer Volkswirtschaft nicht gut.

STANDARD: Ein anderes heißes Thema ist in den USA derzeit die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Ist es ein wirtschaftliches Problem, wenn 0,01 Prozent der US-Haushalte, 16.000 Familien, elf Prozent des Vermögens in den USA kontrollieren? Auch die Einkommen konzentrieren sich stark.

DeLong: Ja, das ist ein wirtschaftliches Problem, weil es den Wohlstand der Gesellschaft geringer macht, als es unsere Wirtschaftsleistung eigentlich möglich machen würde. Eine ungleiche Verteilung der Einkommen heißt, die Wirtschaft ist ineffizient, was das Erzeugen von Wohlstand betrifft. Das Angsteinflößende ist, sofern die Reichen die Politik kapern: Die jetzt Reichen haben kein Interesse an großem Wirtschaftswachstum, das gefährdet ihre Vermögen. Wie Piketty gesagt hat, wenn man eine Gesellschaft mit zu großer Ungleichheit bekommt, besorgt man sich Freunde des alten Regimes. Dann bekommt man das Lateinamerika des 19. Jahrhunderts.

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STANDARD: Passiert das gerade in den USA?

DeLong: Es beginnt. Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass es in der letzten Generation eine große Rolle gespielt hat. Aber es ist wahrscheinlich, dass es in der nächsten Generation eine große Rolle spielt.

STANDARD: Ein enger Kollege von Piketty, Emmanuel Saez, arbeitet an derselben Universität wie Sie. Die beiden fordern für die höchsten Einkommen Steuersätze von 70 oder 80 Prozent. Was halten Sie davon?

DeLong: Für eine globale Steuer ohne Schlupflöcher haben sie recht. Wenn man akzeptiert, dass es immer die Cayman Islands geben wird, ein Luxemburg oder ein Zypern oder Gott weiß, was – auch wenn wir die alle schließen, macht vielleicht Wladimir Putin eine Steueroase am Flughafen Scheremetjewo auf, und damit wollen wir nicht wirklich viel zu tun haben, dann ist ein sinnvoller Grenzsteuersatz wohl 50 oder 40 Prozent.

STANDARD: Piketty schlägt auch eine globale Vermögenssteuer vor. Ist das sinnvoll, um das von Ihnen beschriebene Szenario für die USA zu verhindern?

DeLong: Nicht unbedingt. Es muss keine Vermögenssteuer sein, es kann eine Grundsteuer sein, ein höheres Wirtschaftswachstum oder eine Kultur der Philanthropie. Bill Gates hat 100 Milliarden gemacht, nur eine Milliarde geht an seine Kinder. Der Rest geht an Projekte. Es muss nicht nur der Staat machen. Wir sollten uns überlegen, wie wir das sinnvoll nutzen.

STANDARD: Wir können uns vieles überlegen, am Ende entscheiden aber Bill Gates und Carlos Slim selbst, was sie mit ihrem Geld machen.

DeLong: Carlos Slim ist ein sehr intelligenter Mensch. Traut man es ihm zu, die richtigen Werte für Mexiko zu haben, anstatt nur eine Dynastie aufbauen zu wollen, dann hätte man kein großes Problem. Es gibt zwei Aspekte. Der erste ist: Können wir die Superreichen davon abhalten, riesige Vermögen aufzubauen? Und zweitens: Können wir ihnen die nötigen Werte geben, damit sie ihre Talente, mit denen sie so viel Geld gemacht haben, sinnvoll außerhalb der bürokratischen Prozesse von Regierungen nutzen, die Vor- und Nachteile haben?

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Carlos Slim ist laut "Forbes" nach Bill Gates der zweitreichste Mensch der Welt.
Foto: reuters/nicholson

STANDARD: Einerseits plädieren Sie für den Export von Demokratie in den Rest der Welt, andererseits soll eine kleine Gruppe von Menschen in den schon demokratischen Ländern entscheiden, was mit großen Teilen der Ressourcen geschieht. Sehen Sie keinen Widerspruch?

DeLong: Ich glaube, wir brauchen eine Reihe an institutionellen Mechanismen, und Philanthropie ist einer davon.

STANDARD: Kommen wir zu einem anderen Thema. Vergleicht man die USA und Europa heute wirtschaftlich, sieht es für unsere Seite des Atlantiks nicht sehr gut aus.

DeLong: Nein, das tut es nicht. Es gibt drei Gründe, warum die USA sich besser machen, seit sie den Nordatlantik vor einigen Jahren in die Krise gestürzt haben. Erstens haben die USA die Konjunktur stärker gestützt, das ist wohl der größte Unterschied, wieso es für die USA besser läuft. Zweitens haben die USA eine lockerere Geldpolitik betrieben. Es gibt Leute die sagen, das macht den größten Unterschied, ich bin keiner von ihnen. Die Effekte sind da, sie sind aber relativ gering.

STANDARD: Die EZB war Ihrer Meinung nach zu inaktiv?

DeLong: Es ist kaum zu glauben, weil sie enorm viel gemacht hat. Sie ist an ihre Grenzen gegangen und dann noch einmal darüber hinaus. Und es sieht so aus, als sei es nicht genug gewesen.

STANDARD: Kann es statt zu wenig von der Medizin nicht einfach die falsche gewesen sein?

DeLong: Es gibt keine Anzeichen, dass es nicht funktioniert. Wir haben Beweise, dass die Fiskalpolitik mehr erreicht hat als die Geldpolitik. Das heißt aber nicht, dass die Geldpolitik gar nicht geholfen hat.

STANDARD: Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich warnt vor den Nebeneffekten von über lange Zeit sehr lockerer Geldpolitik.

DeLong: Die Kritik früher war, dass das, was die Notenbanken machen, zu Hyperinflation führt. Das Argument mit der Finanzstabilität wird jetzt hergenommen, weil sich das alte als falsch herausgestellt hat. Mir hat noch niemand überzeugend erklärt, wieso eine anhaltende Depression besser für die Finanzstabilität wäre. Wenn man Finanzstabilität will, braucht man zuerst Vollbeschäftigung. Dann muss nämlich niemand Kredite zurückbezahlen, die er in der Erwartung aufgenommen hat, künftig einen Job zu haben. Das ist eine wirkliche Quelle von Instabilität.

STANDARD: Okay, Vollbeschäftigung ist Ihnen wichtiger. Aber sehen Sie wirklich gar keine Nebeneffekte?

DeLong: Wir suchen danach, haben aber noch nichts gefunden. Wir sehen Nebeneffekte von einer erwarteten anhaltenden Depression. Gibt es Auswirkungen von expansiver Geldpolitik auf die Finanzstabilität? Nicht wirklich.

STANDARD: Ich habe Sie unterbrochen. Fiskal- und Geldpolitik sind zwei Gründe, warum die USA besser dastehen. Was ist der dritte?

DeLong: Das Dritte ist das strukturelle Anpassungsproblem in der Peripherie in Europa. Bis 2008 waren deutsche und niederländische Sparer gewillt, große Risiken in Spanien, Italien und Griechenland einzugehen. Diese Bereitschaft ist jetzt nicht mehr da. Die USA haben einen flexiblen Arbeitsmarkt; wenn Investoren nicht mehr gewillt sind, riskante Projekte zu finanzieren, gehen die Leute von dort einfach woanders hin. Das Problem ist, es gibt wenige nichtriskante Projekte, die Arbeitslose in der Peripherie Jobs bieten würden. Die gibt es nur im Sektor der international handelbaren Güter, und da ist das Lohnniveau in der Peripherie zu hoch ...

STANDARD: Noch immer?

DeLong: Ja, noch immer. Es braucht noch fünf oder zehn Jahre, damit die interne Abwertung in der Periphere weit genug geht, um einen Unterschied auszumachen.

STANDARD: Das Lohnniveau in Griechenland ist niedriger als im Jahr 2000.

DeLong: Ja, in Spanien aber nicht so sehr. Griechenland ist ein Sonderfall in der Peripherie. Woanders sind die Dinge nicht so schlecht wie in Griechenland, dafür haben sich die Preisstrukturen in anderen Ländern nicht so stark verändert wie in Griechenland.

STANDARD: Sie sagen, in Europa wird zu wenig Geld ausgegeben. Gleichzeitig sollen die Löhne weiter sinken. Ist das nicht ein Widerspruch?

DeLong: Wäre die Nachfrage in Europa in Summe hoch genug, würden weiterhin mehr deutsche Produkte gekauft werden als solche der Peripherie. Es geht also um die gesamte Nachfrage, aber auch um ihre Verteilung.

STANDARD: Es soll also weniger Nachfrage aus Südeuropa kommen. Irgendjemand müsste das mehr als ausgleichen, damit die gesamte Nachfrage nach Produkten in Europa steigt.

DeLong: Wenn Südeuropa in den nächsten fünf Jahren eine Inflation von null Prozent hat und die Eurozone im Schnitt eine von zwei Prozent, bräuchte Nordeuropa eine Inflation von vier Prozent, damit sich Angebot und Nachfrage in Europa ausgleichen.

STANDARD: Sieht man sich die Erwartungen von Investoren an, dann sind solche Inflationsraten illusorisch.

DeLong: Ja, und das ist ein Zeichen dafür, wie weit wir davon weg sind, die Nachfrage zu erhöhen. Christina Romer (Anm.: eine Berkeley-Kollegin von DeLong) sagt, um die niedrige Nachfrage in der Eurozone zu erhöhen, sollte die durchschnittliche Inflationsrate vier Prozent betragen. Der Anstieg des Preisniveaus würde so nur das ausgleichen, was in den letzten Jahren verloren wurde. Neben dem großen Nachfrageloch gibt es aber eben auch noch das strukturelle Problem.

STANDARD: Deutschland hat jetzt eine Inflationsrate von 0,7 Prozent. Wo ist der Knopf, den wir drücken können, um sie auf vier Prozent zu bringen?

DeLong: Die deutsche Regierung könnte viele Staatsanleihen begeben und das Geld in Infrastruktur investieren. Sie könnte besonders darauf achten, dass es Projekte sind, die nicht den Frankfurtern Jobs bringen, sondern dass Rohmaterialien aus der Periphere zugekauft und temporär Jobs für Leute von dort geschaffen werden. Das hätte eine sehr, sehr nette Kosten-Nutzen-Rate. Es sollte sich von selbst finanzieren. Tut es das nicht, und die Anleihen werden teurer, kann die EZB sie aufkaufen. Wenn den deutschen Politikern die Schulden nicht gefallen, die sie machen müssten, gibt es viele Investmentbanker, die sehr klug sind, wenn es um das Verstecken von Verbindlichkeiten in der Bilanz geht. Sieht man sich den großen Schaden an, den sie damit in den 2000er-Jahren angerichtet haben, könnten sie das auch machen, um die europäische Wirtschaft und deutsche Politiker glücklich zu machen.

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STANDARD: Nehmen wir an, in fünf Jahren läuft die Wirtschaft in den USA und Europa wieder rund ...

DeLong: Das habe ich 2007 auch gesagt. Jetzt haben wir 2014, wir sind im achten Jahr eines verlorenen Jahrzehnts. Dass die Dinge in fünf Jahren wieder rund laufen, sage ich nicht mehr.

STANDARD: Nehmen Sie es für diese Frage trotzdem an. Ein Kern der Krise waren Banken, die hoch verschuldet waren und wenig Eigenkapital hatten. Daran hat sich wenig geändert. Sind wir so nicht immer nur einen Schritt vom Abgrund entfernt?

DeLong: Ja.

STANDARD: Sollten wir auf die Stanford-Ökonomin Anat Admati hören, die Eigenkapitalquoten von 20 bis 30 Prozent fordert?

DeLong: Auf sie zu hören wäre eine große Hilfe, ja. Man sollte die Bankenwelt aufteilen in einerseits ein Zahlungssystem. Dort sind Dinge, die mit Einlagen und Zahlungen verbunden sind. Die haben relativ sichere Portfolios und auch Garantien vom Staat für ihre Einlagen. Auf der anderen Seite gebe es die Investmentbanken. Die hätten keine Garantien und würden durch Verstaatlichung und Auflösung bestraft, wenn sie systemische Gefahren erzeugen.

STANDARD: Das Hauptargument gegen so ein Glass-Steagall-System ist Lehman. Die Bank ging pleite und löste die Krise aus, war aber eine reine Investmentbank.

DeLong: Ja, aber es ist sicherlich so, dass die Universalbanken in der Krise viel besser aufgestellt waren als die Investmentbanken. Was die Krise auslöste, war nicht Lehman, sondern dass Bank of America und Citigroup als pleite angesehen wurden, im Prinzip jeder außer Goldman Sachs und JPMorgan wurde als bankrott gesehen. Nehmen wir das Beispiel Credit Suisse. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, dass die Schweizer Aufsicht mit ihr umgehen hätte können. Die Schweiz hätte Delaware als eine Holding-Company angliedern und dem Fed-System anschließen müssen, um mit einer Credit-Suisse-Pleite umgehen zu können. Dass Lehman pleiteging, ist kein Argument gegen Glass-Steagall. Der Umstand, dass Lehman pleite war, ließ die Leute glauben, dass Citi und Bank of America die Nächsten seien.

STANDARD: Sie haben Ihre Ansichten in der Krise stark verändert und eingestanden, die Wirtschaftsgeschichte und Erkenntnisse von Ökonomen wie Minsky (Finanzzyklus) und Kindleberger (Krisengeschichte) vernachlässigt zu haben. Wie steht es um Ihre Kollegen?

So zeichnet der Ökonom Brad DeLong die Veränderung seiner Ansichten auf. Links steht für die Zeit vor der Krise, rechts für jetzt. Zur Entzifferung der Reihe nach: Austrian, Monetarist, Keynesian, Minskian.

DeLong: Ich habe mich stark verändert, hatte vor der Krise mehrheitlich monetaristische Ansichten. Heute vertrete ich viel eher Ansichten von Keynes oder Minsky. Ökonomen als Ganzes haben sich nicht im Entferntesten so viel bewegt. Sie sind in Wahrheit weiter weg von dem, was nach den jüngsten Erfahrungen vernünftig wäre, als noch 2007.

(Andreas Sator, DER STANDARD, 2.12.2014)