Inzestuöse Beziehung und unheimliche Spiele: Flora (Sónja Grané) und Miles (Thomas Lichtenecker).

Foto: Monika Rittershaus, Berliner Staatsoper

Wien – Claus Guth gehört zu den Verlässlichen der Branche. Er setzt weniger auf den Überraschungseffekt als vielmehr auf Präzision. Beim Durchleuchten der Stücke bis auf ihren psychologischen Grund. Und bei der szenischen Umsetzung. Da gibt es kein Rausreden auf Kulissenmalerei, wie neulich bei der "Tosca", ebenfalls in der Berliner Staatsoper im Schiller-Theater.

Dass Guth im Falle von Benjamin Brittens Psycho-Kammerspiel "The Turn of the Screw" – was sich nur ziemlich unbequem mit "Drehung der Schraube" übersetzen lässt – ein Labyrinth aus Wänden rotieren lassen würde, war im Grunde vorhersehbar.

Zusammen mit seinem Stammausstatter Christian Schmidt ist Guth so etwas wie ein Spezialist für Treppenhäuser, getäfelte Wände, Türen und Fenster. Sie sind aber nie nur nachgemachte Architektur für die Bühne, sondern immer geistige Räume. Innenwelten. Diesmal sind es hohe dunkelrote, hüfthoch getäfelte Wände mit Türen und Fenstern auf der reichlich rotierenden Drehbühne, die sich zwischen den beiden fest installierten Raumteilen am Bühnenportal immer wieder von Fluren zu kleineren und großen Räumen wandeln, sie eigentlich nur andeuten.

Unheimliche Spiele

Die altmodischen Lampen erinnern an ein Nobelhotel, ihr Flackern an ein Geisterhaus. Was dieser Landsitz Bly, auf dem die junge Frau als Gouvernante für die zwei Mündel eines reichen, in der Stadt lebenden Onkels sorgen soll, wohl am ehesten ist. Denn langsam, aber unaufhaltsam ergreifen die Geister der Vergangenheit Besitz von der Gegenwart.

In der geradezu inzestuös engen Beziehung der Geschwister Flora und Miles und ihren unheimlichen Spielen. In den Stimmen der "Anderen", die beim Essen aus den Kindern ertönen: Es sind die der unter merkwürdigen Umständen zu Tode gekommenen ehemaligen Angestellten Mrs. Jessel und ihres offenbar teuflischen Kumpanen Quint.

Schon bald beginnt Miles, eine verführerische Anziehungskraft auf die Gouvernante auszuüben. Vor allem in dieser Beziehung öffnet sich – insbesondere im Auge des Betrachters – mit der Zeit unweigerlich ein Abgrund: In dem sieht man in der Vergangenheit stattgefundenen Missbrauch, merkwürdige Spiele, die auf eine Traumatisierung deuten, und eine latente Verführung und Verführbarkeit. Letztere greift auf die Gouvernante über und zerreißt sie innerlich. Bis am Ende eine offenbar in den Wahnsinn geflüchtete Gouvernante mit Miles allein an der Tafel sitzt und nicht mehr merkt, dass dieser längst tot ist.

Musikalisch ist der Abend eine Glanzleistung. Im Graben wird unter Ivor Bolton hochtransparent und beredt mit einem Spannungscrescendo musiziert. Und auf der Bühne mustergültig eloquent gesungen und gespielt. Dabei wird das erotisch aufgeladene Knistern zwischen Miles und der Gouvernante zum vokalen und szenischen Zentrum. Zu danken ist das zum einen dem kraftvoll engelsklar singenden und mit der Grenze zwischen Kind und jungem Mann virtuos spielenden Wiener Countertenor Thomas Lichtenecker, zum anderen der Britin Emma Bell als langsam von der unheimlichen Atmosphäre aufgesogener Gouvernante.

Aber auch Sónia Grané als Flora und Marie McLaughlin als Mrs. Grose, der im Prolog sichtbare und als Peter Quint nur hörbare Richard Croft und Anna Samuil als Stimme von Miss Jessel halten mehr als nur mit. (Joachim Lange, DER STANDARD, 28.11.2014)