Herr Meyer, der bei seinen Mitarbeitern eher gefürchtet als geachtet ist, wird zu seinem Chef gerufen und vermutet, dass dies in Zusammenhang mit einer seiner letzten Entscheidungen steht, die nicht beabsichtigte Auswirkungen gezeitigt hatte. Am Weg über den Gang erfährt er psychisch eine dramatische Verjüngung. Er wird zu dem kleinen Kind, das zum Vater befohlen wird, und fürchtet, ein weiteres Mal physisch oder auch "nur" psychisch verletzt zu werden, weil ihm etwas passiert ist.
Herrn Meyer ist dies nicht bewusst. Er wird jedoch von Gefühlen der Angst und Verzweiflung, aber auch von Wut und Zorn überschwemmt. Die Chancen stehen gut, dass er seinen Chef zu einem Verhalten provoziert, das sein, Meyers, Weltbild ein weiteres Mal bestätigt: Sei es, man habe keine Chance, anerkannt zu werden und könne daher nichts leisten, sei es, dass die Bestätigung eingeholt wird, man müsse sich wehren, dann würden die anderen schon zurückweichen und einem Zumutungen, etwas zu leisten, ersparen.
Gehemmte Aggression
Üblicherweise hilft es einem Vorgesetzten, der einem Menschen wie Herrn Meyer gegenübersitzt, nicht viel, wenn er Gesprächstechniken aus Konfliktmanagement-Seminaren oberflächlich beherrscht. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass Herr Meyer in so einem Fall spürt, dass sich sein Gegenüber an eine Technik klammert und sich in seinem resignativen Rückzug oder in seiner wenig gehemmten Aggression bestärkt sieht.
Der Vorgesetzte ist gut beraten, das Verhalten von Herrn Meyer als Information anzusehen, die dieser über sich selbst zur Verfügung stellt. Er sollte auf seine eigenen Gefühle achten und sich die Frage stellen: Will ich es zulassen, dass Herr Meyer auf mich einen emotionalen Sog auslöst, der mich dazu bringt, meine Aufgaben und Gesprächsziele aus den Augen zu verlieren? Will ich mich in ein emotionales Spiel hineinziehen lassen, auf das ich üblicherweise, wenn ich gelassener bin, nicht einsteige? Wie kann ich Herrn Meyer klar machen, dass ich ihn persönlich achte und mich für ihn verantwortlich fühle, aber gerade deshalb bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen kritisch zum Thema machen muss?
Grundsätzliche Bereitschaft
Eine solche Gesprächshaltung setzt voraus, dass man über die grundsätzliche Bereitschaft verfügt, Menschen achtungsvoll gegenüberzutreten, und die produktive Handhabung von Konfliktsituationen als Kerngeschäft von Führungskräften ansieht. Beides, die Akzeptanz von Menschen, auch wenn sie schwierig sind, und von Führungsaufgaben, auch wenn sie belastend sind, stellt zentrale Voraussetzungen gelingender Führungsarbeit dar.
Um diese erfolgreich auszuführen, ist das Beherrschen guter Gesprächstechniken hilfreich. Diese stoßen jedoch an enge Grenzen oder können sogar kontraproduktiv wirken, wenn die Grundhaltung und die persönliche Eignung des Vorgesetzten fehlen, andere Menschen auch in als negativ erlebten Situationen positiv zu berühren und zu bewegen. Hier hat jeder Mensch seine persönlichen Grenzen. Diese sind jedoch nicht unverrückbar, sondern durch Selbstbeobachtung und Übung verschiebbar oder durchlässiger gestaltbar. Gutes Führen ist erlernbar. (DER STANDARD, 29./30.11.2014)