Ein Jahr nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Deutschen Bundestag unmissverständlich fest: Es gebe nichts, das die Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim oder die direkte oder indirekte Beteiligung Russlands an den Kämpfen im Donezk oder Luhansk rechtfertige. "Das Vorgehen Russlands stellt die europäische Friedensordnung infrage und bricht internationales Recht", fügte jene europäische Politikerin hinzu, die wie kein Zweiter geduldig und offen das Gespräch mit Wladimir Putin gesucht hat.
Trotz der Fülle dokumentarischer Beweise, Filme und Bücher wird weiterhin auf allen Kanälen der russischen Staatsmedien, die für 90 Prozent der Bevölkerung die Informationsquellen sind, die Wende in der Ukraine als faschistischer Putsch denunziert und Russland als die Zielscheibe der Angriffe der neuen kalten Krieger hingestellt,
Alle jene Politiker und Publizisten, die für das Recht der Ukrainer eintreten, selber zu entscheiden, wie sie leben wollen, und den Anspruch Dritter, das zu entscheiden, ablehnen, werden von linken und ultrarechten Populisten, von PutinVerstehern und Leisetretern in der Wirtschaft als unverbesserliche "Scharfmacher", Feinde des Dialogs mit dem harmlosen und in seinem nationalen Stolz verletzten Russland kritisiert.
Obwohl Putins Feldzug in der Ukraine angeblich der Abwehr der faschistischen Gefahr dient, werden der russische Präsident und seine Politik auch in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen verstanden und sogar bewundert. Die Antifaschismuslegende hindert Marie Le Pen (deren Front National offiziell neun, in Wahrheit möglicherweise 40 Mio. Euro Kredit von einer russischen Bank erhalten hat) ebenso wenig wie die FPÖ-Spitze daran, die Politik des Kremls öffentlich zu preisen.
Das Ziel der russischen Politik bleibt, wie in der Sowjetzeit, den Westen zu spalten und den USA zu entfremden. Die SED-Nachfolgepartei Die Linke (die der Bürgerrechtskämpfer Wolf Biermann im Bundestag anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls als "kläglichen Rest der DDR-Diktatur" bezeichnete) pflegt das sowjetische Geschichtsbild des "Antifaschismus" und teilt mit den Ultrarechten die tief verwurzelten, antiamerikanischen Ressentiments. Von ganz links bis ganz rechts, von den linken Antifaschisten bis zu den Rechtspopulisten und Nationalkonservativen werden Putins Ideen von imperialer Größe, völkischem Nationalismus und sein Kreuzzug gegen die "Irrwege der Moderne" (Homo-Ehe, Gleichberechtigung der Frauen, Conchita Wurst) verehrt.
Die Putin-Verteidiger werden durch den Schuldkomplex aus dem Zweiten Weltkrieg, die Verirrungen des US-Lebensstils und durch das konservativ-religiöse Gegenmodell zu den dekadenten Gesellschaften des Westens motiviert. Russland mag infolge des Verfalls des Ölpreises und des Absturzes des Rubels sowie durch die Folgen der westlichen Sanktionen dem Staatsbankrott entgegenschlittern. Der Frontalangriff auf Europas moralisches Rückgrat (Freiheit, Selbstbestimmung, Rechtsstaat) wird trotzdem durch die bizarre Querfront der Antiwestler von Moskau bis Paris, von links und rechts unverändert fortgesetzt.
PAUL LENDVAI
(PAUL LENDVAI, DER STANDARD, 2.12.2014)