Wien - Der 3. Dezember gibt jährlich Anlass für mahnende Worte. Es handelt sich um den von der Uno ausgerufenen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung. Österreich hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2007 ratifiziert. Laut Artikel 4 ist "die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen sicherzustellen und zu fördern". Das meint das Recht auf eine unabhängige Lebensführung, auch bei Bildung und Arbeit. Doch für die rund 600.000 in Österreich lebenden Menschen mit Behinderungen liegt einiges im Argen:
Besonders bedenklich sind die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Behindertenanwalt Erwin Buchinger sagte dem Standard, die Arbeitslosenrate von Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung steige doppelt so rasch wie jene der Personen ohne Behinderung. "Da hat sich heuer leider der unerfreuliche Trend der letzten Jahre fortgesetzt" , fasst Buchinger die Situation zusammen und fordert ein Gegensteuern. Der Bund müsse da als Vorbild agieren und die Einstellungsquote weiter erfüllen. "Doch angesichts der derzeit geringen Zahl der Neueinstellungen, fürchte ich, dass sich das ändert", sagt Buchinger.
Es brauche zudem mehr Anreize sowie höhere Geldstrafen - eine höhere "Ausgleichstaxe" - für Unternehmen, die der Beschäftigungspflicht von Menschen mit Behinderung nicht im vollem Maß nachkommen. Außerdem bedürfe es besserer Förderungen und Beratungen seitens des Arbeitsmarktservice (AMS).
47.000 Arbeitslose
Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) verwies in einer Stellungnahme auf die von seinem Ressort gesetzten Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung. Man sei besonders bemüht, deren Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: "Durch den gezielten Einsatz von Förderungen konnten im Jahr 2013 trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in rund 71.000 Fällen Menschen mit Behinderung bei der Erlangung oder Sicherung ihrer Arbeitsplätze unterstützt werden." Doch 2013 waren im Jahresdurchschnitt etwa 47.000 Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen arbeitslos gemeldet - ein Plus von 17,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Rund 21.000 Menschen mit Behinderungen sind in Werkstätten beschäftigt und von Sozialversicherungsleistungen, Arbeitnehmerschutz und Urlaubsansprüchen ausgeschlossen (siehe Wissen). Volksanwaltschaft und NGOs wie die Diakonie fordern "eine Anerkennung der Tätigkeiten in Werkstätten als Arbeit im arbeitsrechtlichen Sinn".
Oft mangelt es schon an Möglichkeiten zur Qualifizierung für einen Beruf - eine große Baustelle ist die fehlende Inklusion im Bildungsbereich (siehe Seite 7). Es fehlen Möglichkeiten für höhere Schulbildung und für Nachmittagsbetreuung in jeglicher Form.
Die Situation Gehörloser macht beispielhaft deutlich, was das bedeuten kann: Die österreichische Gebärdensprache ist seit 2005 in der Verfassung verankert, "doch zweisprachiger Unterricht ist bis dato nicht der Fall", sagt Helene Jarmer - die Behindertensprecherin der Grünen ist Präsidentin des Gehörlosenbundes (ÖGLB). Die Gebärdensprache mit eigener Grammatik und Syntax ist laut Jarmer die Muttersprache der Gehörlosen - nicht Deutsch. Doch da es an bilingualem Unterricht mangelt, haben von den etwa 10.000 Gehörlosen in Österreich geschätzt nur drei Prozent Matura. Maximal ein Prozent schließt ein Studium ab. In Schweden sind es zehn Prozent der Gehörlosen.
Lukas Huber vom ÖGLB nennt das Beispiel zweier gehörloser Schülerinnen in Kärnten, die eine AHS abschließen wollten, was mangels bilingualen Unterrichts aber nicht möglich war. Die zuständigen Behörden stellten fälschlicherweise fest, dass die Muttersprache "Deutsch" sei. Die heute 16-Jährigen verloren zwei Schuljahre und besuchen nun eine Handelsschule.
In Sachen Barrierefreiheit in Österreich sieht Behindertenanwalt Buchinger Fortschritte: "Da tut sich etwas." Laut Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, das ab 1. 1. 2016 voll anzuwenden ist, kann eine bauliche Barriere eine mittelbare Diskriminierung darstellen, die unter Umständen zu einer Schadenersatzverpflichtung führt.
Caritas-Präsident Michael Landau warnt aber, dass es für unter Landesrecht fallende Pflichtschulen und Kindergärten keine Frist gebe, bis wann sie barrierefrei sein müssen. Wien und die Steiermark hätten immerhin Etappenpläne erstellt, in Kärnten sei ein solcher in Arbeit, hieß es in einer Caritas-Aussendung. Die sechs anderen Bundesländer "legen ihre Hände in den Schoß", kritisierte Landau. (Julia Schilly, Gudrun Springer, DER STANDARD, 3.12.2014)