Während in Österreich über schulische Integration gestritten wird, ist gemeinsames Lernen in Südtirol längst Realität. Jeder Lehrer ist auch für Integration zuständig - und wird dementsprechend ausgebildet.

Foto: Florian Lechner

Der junge Vater schaut verdutzt. Er spricht perfektes Deutsch, aber "Sonderschule" - das Wort sagt ihm nichts. "In Österreich wachsen diese Kinder abgeschottet wie Aliens auf oder wie?", fragt er ungläubig und schüttelt den Kopf.

Freitagmittag in der Fußgängerzone von Bozen. Schulschluss. Das Wochenende steht bevor. Es ist ein verregneter Tag. Durch die Touristenströme schlängeln sich einheimische Eltern; in einer Hand der Regenschirm, mit der anderen versuchen sie, ein oder zwei Kinder mit großem Ranzen am Rücken voranzutreiben.

"Wie Aliens in Ghettos?", setzt der junge Vater noch einmal an. Er war gefragt worden, ob sich die Abschaffung der Sonderschulen in Italien seiner Meinung nach positiv ausgewirkt habe oder ob er das österreichische Modell bevorzugen würde.

Integrative Regelschule

Zweiter Versuch: Mutter mit zwei Kindern. Ob an der Schule ihrer Töchter auch Kinder mit Beeinträchtigung unterrichtet würden? Nein, lassen die Mädchen sie wissen. Kurzes Schweigen. Oder doch? Ihr bester Freund sei gebürtiger Afrikaner, sagt die Siebenjährige. Die ältere Schwester ist ob der Antwort skeptisch. Einen gebe es, der sei immer recht wild, plappert die jüngere weiter. Ach ja, und ein Kind sitze im Rollstuhl. In zwei oder drei Klassen, fällt den Mädchen schlussendlich ein, gebe es spezielle Unterstützungslehrer für behinderte Kinder.

In Italien ist die integrative Schule die Regelschule - und das seit bald vierzig Jahren. 1977 wurden Sonderschulen über Nacht abgeschafft: fünf Jahre Volksschule, drei Jahre Mittelschule, dann berufsbildende Schule oder Gymnasium - darauf hat in Südtirol jedes Kind ein Recht, egal, ob es hochbegabt oder Wachkomapatient ist. Seither ist jeder Lehrer auch für Integration zuständig - und wird dementsprechend ausgebildet. In fast allen Schulen Südtirols wird mindestens ein Kind mit Behinderung unterrichtet. Dadurch hat sich auch die Gesellschaft verändert.

"Wir reden von Normalität"

Hansjörg Elsler sitzt in der Cafeteria der Bozener Universität und erinnert sich zurück: "Als ich ein Kind war, gab es unweit von hier einen Friedhof mit drei Grabsteinen vor der Friedhofsmauer", erzählt er. "Irgendwann habe ich verstanden, warum die nicht drinnen sein durften. Das waren die Gräber von einem Selbstmörder und zwei schwerbehinderten Kindern." Elsler ist Feuerwehrmann, Präsident des Arbeitskreises Eltern Behinderter (AEB) in Südtirol und Vater von Maximilian. "Heute kenne ich einige behinderte Kinder, die Ministranten sind. Wir reden nicht mehr von Integration, sondern von Normalität", sagt er.

Elsler und seine Frau haben vor 21 Jahren Drillinge bekommen. Maximilian, der Letztgeborene, war während der Entbindung einige Minuten lang ohne Sauerstoffversorgung. Er sitzt im Rollstuhl, kann sich weder selbstständig anziehen noch aufs Klo gehen, er kann ohne Hilfe nicht essen, kaum sprechen. Vor einem Jahr hat er eine Fachschule für Hauswirtschaft abgeschlossen. Vom Kindergarten bis zur Mittelschule war er in denselben Schulen wie seine Geschwister.

Am Rand der Gesellschaft

Wenn in Österreich über die Abschaffung von Sonderschulen gesprochen wird, fällt schnell das Argument, dass Eltern die Wahl gelassen werden muss, ob ihr behindertes Kind, wie es im Fachjargon heißt, integrativ beschult oder ob es in einer sonderpädagogischen Einrichtung untergebracht werden soll. "Vielleicht können Kinder in Sonderschulen gezielter gefördert werden", sagt Elsler. "Die Frage ist, was das bringt, wenn sie dafür am Rand der Gesellschaft leben."

Edith Brugger-Paggi war zwanzig Jahre lang Mittelschullehrerin und zehn Jahre lang Schulinspektorin in Südtirol. Heute lehrt sie an der Universität in Brixen. Auch sie sagt: "Natürlich sind Eltern so mehr in die Pflicht genommen, als wären ihre Kinder in einem Heim untergebracht." Ein anderes Argument von Sonderschulbefürwortern lässt sie nicht gelten: "Höhere Kosten sind in Südtirol durch das integrative Modell nicht entstanden. Am teuersten ist definitiv das österreichische Parallelsystem", sagt Brugger-Paggi.

"Zwischen Schulsystemen liegen Welten"

Anfänglich sei auch Elsler skeptisch gewesen, als in den Siebzigern das "neue italienische Gesetz" eingeführt wurde. "Als deutschsprachige Minderheit hatten wir uns im Schulbereich eher an Österreich orientiert. Ich dachte, das wird bei uns nicht funktionieren." Heute, sagt Elsler, kenne er keine Eltern, die sich Sonderschulen zurückwünschen.

Natürlich gibt es auch in Südtirol noch Probleme: Der Übergang in die Arbeitswelt würde nicht funktionieren, Experten bemängeln, dass die Spezialisierung von Integrationslehrern abgenommen habe. Schlussendlich, sagt Brugger-Paggi und lächelt, sei schulische Inklusion aber das Modell der Zukunft, an dem nichts vorbeiführe.

Ihrer Ansicht nach könne in Österreich eine Umstellung innerhalb von fünf Jahren erfolgen - wenn der politische Wille da sei. Der zeichnet sich derzeit allerdings nicht ab: "Nordtirol ist nur einige Kilometer entfernt, aber zwischen unseren Schulsystemen liegen Welten." (Katharina Mittelstaedt aus Bozen, DER STANDARD, 3.12.2014)