"Man ist online, um ununterbrochen den Nachrichtenstrom abzurufen. Man glaubt, dass es nicht mehr reicht, einmal am Tag über das Weltgeschehen informiert zu werden." Hartmut Rosa über die Krise der Tageszeitungen.

Foto: juergen-bauer.com

STANDARD: In der Wiener U-Bahn fordert eine Durchsage die Wartenden auf, beim "Zeitsparen" zu helfen und ankommende Fahrgäste zuerst aussteigen zu lassen. Wann wurde Zeitsparen zum kollektiven Ziel?

Hartmut Rosa: Seit dem 18. Jahrhundert bewegen wir uns weg von moralischen Normen hin zu Zeitnormen – diese Durchsage ist ein Beispiel. Früher hätte man die Menschen eher gebeten, aus Höflichkeit zurückzutreten. Heute sagt man: Helfen Sie Zeit sparen! Das ist das wichtigere Motiv geworden.

STANDARD: Bedarf es keiner weiteren Begründung, weil wir alle in Eile sind?

Rosa: Dass Zeit knapp ist, scheint in der Natur der Sache zu liegen. Ich halte Zeit für ein soziologisches Thema, weil sie sozial konstruiert ist. Sie ist keine eigenständige Dimension. Für wie knapp wir Zeit halten, welches Tempo wir als richtig empfinden, wie lang Planungshorizonte sind – das liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern in der Natur einer modernen Gesellschaft mit kapitalistischen Leistungszwängen. Die Gesellschaft ist auf Steigerung angelegt. Das Einzige, was wir nicht steigern können, ist Zeit. Deshalb wird sie uns zu kurz.

STANDARD: Liegt es an den ständig steigenden Anforderungen, dass wir trotz Digitalisierung nicht mehr Zeit haben?

Rosa: Zeitknappheit ist ein Verhältnis zwischen Zeitressourcen und Aufgabenpensum. Unsere To-do-Listen wachsen schneller, als wir Zeit sparen können. Die Anforderungen an uns nehmen ständig zu: dass wir uns bilden, fit sind und uns nicht hängenlassen.

STANDARD: Welche Rolle spielt hier die Auflösung der Grenze zwischen Freizeit und Arbeit, etwa durch das Smartphone und ständige Erreichbarkeit?

Rosa: Unser Möglichkeitshorizont ist ins Unglaubliche gewachsen. Man steht unter dem gefühlten und oftmals wirklichen Erwartungsdruck, spätabends noch die E-Mails zu checken. Das wäre früher nicht möglich gewesen. Das ständige Verfügbarsein kommt aber nicht in Form von expliziten moralisch oder politisch begründeten Vorschriften daher. Wir glauben, dass wir es irgendwie freiwillig tun. Und wir tun es ja auch irgendwie freiwillig. Auch deshalb habe ich den marxistischen Begriff der Entfremdung wieder aufgenommen: Wir tun aus eigenem Antrieb und aus freiem Entschluss häufig Dinge, die wir nicht wirklich tun wollen.

STANDARD: Immerhin arbeiten wir heute wesentlich weniger als die Menschen im 19. Jahrhundert.

Rosa: Es stimmt, dass wir tendenziell weniger arbeiten. Gleichzeitig sind die Veränderungsraten gestiegen: Wir müssen uns ununterbrochen einstellen auf neue Bedingungen, Arbeitsgeräte, Vorschriften. Die Idee des Wettbewerbs endet ja nicht mit dem Arbeitstag, sondern setzt sich fort in den Anforderungen an die Selbstoptimierung: Wir sollen gesund, leistungsfähig und sozial sein.

STANDARD: Wir können heute alles zu jeder Zeit tun: einkaufen, kommunizieren, arbeiten. Wie beeinflusst das unsere Wahrnehmung von Zeit?

Rosa: In der fordistischen Gesellschaft der 60er-Jahre gab es Zeitfenster für alle sozialen Sphären: Bis 17 Uhr arbeitete man, dann ging man einkaufen, danach war Ladenschluss, um 20 Uhr kamen die Nachrichten, am Samstag ging man zum Fußball und am Sonntag in die Kirche. Diese Zeitfenster lösen sich auf. Heute sind alle Optionen in unserer Wahrnehmung parallel präsent. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit immer auf alle Sphären gleichzeitig. Das erhöht das Gefühl von Druck und Zeitknappheit und führt zu Entfremdung.

STANDARD: Was meinen Sie mit Entfremdung?

Rosa: Dass uns die Welt nicht mehr berührt. Wir sind entfremdet, wenn wir einer Sphäre wie Arbeit oder Familie zwar zugehörig sind, sie uns aber nichts mehr sagt, uns nicht mehr mit Sinn erfüllt. Im schlimmsten Fall entsteht eine Repulsionsbeziehung – man sagt: "Mich kotzt alles an, ich will die Leute nicht mehr sehen." Dann ist der Resonanzdraht verstummt.

STANDARD: Was brauchen wir dagegen?

Rosa: Wir sehnen uns nach Resonanzbeziehungen. Nach einem Verhältnis zur Welt im Sinne einer Antwortbeziehung, bei der uns Dinge berühren. Fragt man Menschen, was sie glücklich macht, erzählen sie Geschichten, die sie bewegen. Die Gefahr gesellschaftlicher Beschleunigung ist, dass sie dauerhafte Resonanzbeziehungen verhindert. Der Aufbau von Resonanzen ist zeitintensiv: Ich muss mich auf eine Sache einlassen, damit sie eine verwandelnde Kraft erzeugt.

STANDARD: Lässt sich der Zynismus vieler Menschen gegenüber der Politik auch mit dem Verschwinden von Resonanzen erklären? Also damit, dass uns Politik nicht mehr erreicht?

Rosa: Politik wird heute oft als Entfremdungssphäre wahrgenommen. Demokratie birgt ja ein Grundversprechen: die Stimme des Bürgers hörbar zu machen; dass Menschen sich einbringen können. Das meine ich mit Resonanzbeziehung: dass das öffentliche Leben nicht von uns unabhängig passiert, sondern antwortet; dass wir mit der Politik ein Instrument haben, um die Welt zu gestalten.

STANDARD: Das scheint für viele nicht mehr zu funktionieren.

Rosa: Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Politik nicht mehr antwortet und keine Resonanzbeziehung mehr zulässt. Man sagt: Die Politiker hören nicht mehr auf uns, geben nur Floskeln von sich und bereichern sich. Diese Wahrnehmung kann dazu führen, rechtspopulistisch zu wählen.

STANDARD: Ist die Demokratie zu langsam für die heutige Gesellschaft?

Rosa: Demokratie lässt sich jedenfalls nur bedingt beschleunigen. Entscheidungsfindung und Willensbildung erfordern Resonanzbeziehungen, weil wechselseitig Antwort gegeben wird. "Seid ihr auch gegen Ausländer?" zu fragen ist keine Demokratie. Es geht darum, Positionen zu finden, Argumente zu formulieren, abzuwägen, in Konsens zu bringen. Die Beteiligten lassen sich von Argumenten erreichen und vielleicht transformieren. So entstehen Entscheidungen. Das ist zeitaufwendig. Wenn Gesellschaften komplexer werden, weil unterschiedliche religiöse und gesellschaftliche Überzeugungen ins Spiel kommen und man nicht mehr sagen kann, was von einer Entscheidung betroffen ist, verlangsamt sich der demokratische Prozess. Diese Zeit steht nicht zur Verfügung in Hochgeschwindigkeitskapitalismen.

STANDARD: Wie sehr hat sich der politische Apparat beschleunigt? Politiker heute reden nachweislich schneller als die früherer Zeiten.

Rosa: Es hat nicht nur die reine Redegeschwindigkeit zugenommen. Im Fernsehen liegt die durchschnittliche Rededauer, also wie lange jemand am Wort ist, bei etwa drei Sekunden. Umgekehrt muss man zugeben: Wenn jemand ewig braucht, um ein Argument zu formulieren, und sich sogar eine Pause zum Nachdenken nimmt, dann ist man versucht weiterzuzappen.

STANDARD: Welche Rolle spielen hier die Medien? Die Jagd nach "Sagern" von Politikern, Exklusivgeschichten und die Zuspitzung auf Personen dienen wohl kaum einer gelassenen Demokratie?

Rosa: Politische Nachrichten entstehen heute unter den Bedingungen massiver Beschleunigung. Kaum passiert irgendwo auf der Welt etwas, ist es weltweit verbreitet. Fünf Stunden später stehen die Medien vor den Politikern und wollen eine Auskunft oder Entscheidung. Wenn Politiker nichts sagen oder sagen, dass sie sich zuerst einmal eine Meinung bilden müssen, dann heißt es: Die zögern und zaudern und sind entscheidungsschwach. Sagen Politiker etwas Falsches, gibt es erst recht einen Skandal. Das zwingt Politiker in ganz enge Fenster dessen, was überhaupt noch möglich ist.

STANDARD: Hat die aktuelle Krise der gedruckten Tagespresse auch mit der verkürzten Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser zu tun?

Rosa: Tageszeitungen stehen auch deshalb unter Druck, weil man das Gefühl hat, dass es nicht mehr reicht, einmal am Tag über das Weltgeschehen informiert zu werden. Man ist online, um ununterbrochen den Nachrichtenstrom abzurufen. Die Geschwindigkeit, mit der politische Nachrichten entstehen, ist aber nicht nur an die Medien gekoppelt, sondern auch an die Märkte. Vieles, was auf den Märkten wie dem Finanzmarkt passiert, vollzieht sich fast mit Lichtgeschwindigkeit. Zahlreiche Entscheidungen werden nicht mehr von Menschen getroffen, sondern von Computeralgorithmen. Wenn sich zum Beispiel eine Steuererhöhung abzeichnet oder eine Währungsabwertung, dann überprüfen Computerprogramme die Signalwörter und reagieren darauf. Das hat dazu geführt, dass Politiker heute beim Verkünden marktrelevanter Nachrichten entsprechende Signalwörter fallen lassen, um die Computerprogramme zu beeinflussen. Das ist ein drastisches Beispiel dafür, wohin die Reise geht. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 6./7./8.12.2014)