Zu wenige Theater wirken in Bezug auf zeitgenössisches Musiktheater repertoirebildend, befindet Dirigent Johannes Kalitzke.

Foto: Heribert CORN

STANDARD: Olga Neuwirth hat Alban Bergs Operntorso "Lulu" neu instrumentiert, interpretiert und vollendet. Als zentralen Beweggrund führte sie an, diese von Männer geschaffene sexuelle Angst- und Sehnsuchtsfigur Lulu mit einem "weiblichen Blick" von heute betrachten zu wollen. Wie schaut dieser weibliche Blick denn aus?

Kalitzke: Das kann ich als Mann nur begrenzt nachvollziehen. Aber ich lese aus dem Ansatz, den sie verfolgt, eine andere Qualität heraus. Speziell im neu geschaffenen dritten Akt geht es ja in der Polarität von Lulu und Gräfin Geschwitz, die hier Eleonore heißt, um die Entscheidung zwischen Widerstand und Konformität. Unterwirft man sich in einer profitorientierten Gesellschaft einer bestimmten Erwartungshaltung, oder entzieht man sich? Das ist für mich das Aktuelle an diesem Projekt - mehr noch als die Diskussion um den weiblichen Blick oder die Frage der Rassendiskriminierung, die hier ja auch verhandelt wird.

STANDARD: Neuwirth und ihre Ko-Librettistin Helga Utz haben das Geschehen in die USA der 1950er und 1970er verlegt, die weiblichen Hauptfiguren sind Afroamerikanerinnen. Dient diese Hinzufügung der Geschichte, oder ist sie mehr Ballast?

Kalitzke: Weder noch. Die Diskussion der Rassendiskriminierung ist schon so habituiert, dass man sie weder als erschreckend noch als neuartig empfindet.

STANDARD: Kommen wir zur Musik: Olga Neuwirth hat den ersten und zweiten Akt von Bergs "Lulu" umgearbeitet, Schnitte eingefügt, die Erzählfolge umgestellt und das Ganze in Richtung Jazzband instrumentiert. Ist das so korrekt zusammengefasst?

Kalitzke: Verkürzt gesagt, können Sie sich die Sache so vorstellen, dass man Berg mit Gershwin kreuzt - was zum Teil ganz zauberhaft klingt und auch nicht als Stilbruch wahrgenommen wird. Olga hat auch bestimmte Entwicklungslinien der Musik umgeleitet, Elemente anders akzentuiert, Höhepunkte zurückgenommen.

STANDARD: Speziellen Zeitkolorit bringen auch zugespielte Instrumente ein, etwa eine riesige Kinoorgel aus den 1920er-Jahren.

Kalitzke: Ja, die Morton-Wonder-Orgel ist wahrscheinlich die größte E-Orgel der Welt - fast ein historisches Bauwerk. Olga hat das große Orchesterzwischenspiel dafür umgeschrieben - und musste allerdings elementare Kompromisse bei den Tempovorstellungen machen. Aber es ist schon sensationell, was da rauskommt.

STANDARD: Wie groß ist das Orchester?

Kalitzke: Also wenn da "für Jazzband" steht, dann ist das falsch. Das ist schon ein 45-Mann-Orchester mit adäquatem Streicherapparat und allem, was man für den richtigen Louisiana-Sound braucht.

STANDARD: Was macht Olga Neuwirth im dritten Akt? Arbeitet sie frei, oder benutzt sie thematisches Material von Berg?

Kalitzke: Ganz selten. Eigentlich steht der dritte Akt für sich. Er spielt ja auch zwanzig Jahre später und ist eher ein Kontrapunkt als eine Fortsetzung. Diese Bindung an die amerikanische Jazzmusik, speziell an die Blues- und Soulmusik, wird dort ausgebaut.

STANDARD: Was sind Olga Neuwirths besondere Stärken als Komponistin?

Kalitzke: Ich schätze ihre Klangvorstellung. Die halte ich über weite Strecken für sehr originell, auch in Verbindung mit elektronischen Klangmedien. Das ist ja nicht immer leicht: In dem Moment, in dem eine Steckdose im Spiel ist, hat man 1000 Probleme! Wenn man Elektronik verwendet, muss man das Orchester leicht mitverstärken - damit eine integrative Klanglichkeit entsteht. Folglich muss man die Sänger verstärken, damit sie räumlicher klingen. Im Miteinander stellt sich dann heraus, dass man in der Partitur vieles dynamisch ändern muss. Eines zieht das andere nach sich.

STANDARD: Sie sind ja nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist. Finden Sie, dass es in Europa genug Wertschätzung und Unterstützung für zeitgenössische Musik gibt?

Kalitzke: Die Frage kann man nur regional beantworten. Opernhäuser, die sich eine Uraufführung leisten, gibt es gar nicht wenige - weil Uraufführungen die internationale Presse ins Haus bringen. Aber es gibt zu wenige Theater, die sagen: Wir spielen neue Stücke auch nach und bilden aus einer bestimmten Kombination nachgespielter Stücke ein eigenes Profil heraus. Wenn sie einen Intendanten haben, der genauso gut Manager hätte werden können und nur profitorientiert denkt, dann passiert das leider nicht. (Stefan Ender, DER STANDARD, 5.12.2014)