Die Zeit der diplomatischen Zwischentöne ist vorbei: In seiner Rede zur Lage der Nation hat Wladimir Putin den Westen scharf angegriffen. Den USA warf er Aggression, Europa unterwürfige Schwäche vor. Putins Russland ist umzingelt von Feinden, die es "zerstückeln wollen wie Jugoslawien". Moskaus eigene Machtpolitik gegenüber seinen Nachbarn ist, wenn man dem Kremlchef glauben darf, hingegen nicht nur von ehrwürdigen, sondern von geradezu sakralen Motiven geprägt.

So erklärte Putin die Übernahme der Krim mit deren "heiliger Bedeutung" für Russland, schließlich habe sich dort Wladimir I. vor gut 1000 Jahren taufen lassen. Auch der neue Wladimir, Herrscher aller Reußen, gefällt sich sichtlich in seiner Rolle als "Sammler russischer Erde" und Bewahrer des christlichen Abendlands.

Ob er damit aber tatsächlich als "heiliger Wladimir" in die russischen Geschichtsbücher eingehen wird, muss sich erst noch erweisen. Das außenpolitische Hasardspiel des Kreml hat nämlich im eigenen Land handfeste wirtschaftliche und soziale Probleme hervorgerufen. Viele der von Putin in seiner Rede verkündeten Initiativen zur Stärkung der Unternehmerfreiheit und Rechtssicherheit sind begrüßenswert. Als isolierte Maßnahmen werden sie aber nicht ausreichen, um Russland Fortschritt, Wachstum und Wohlstand zu sichern, wenn sich das Land ideell weiter nach außen abschottet. (André Ballin, DER STANDARD, 5.12.2014)